Der Rabe – Kurzgeschichten

Der Rabe

Der Baum war uralt. Er ragte kaum höher als die anderen Bäume im Hönower Wald, aber fünf Menschen hätten ihre Arme breiten müssen, um seinen Stamm zu umschließen. Auf mächtigen Krallenwurzeln gestützt schob sich wulstig der Stamm in die Höhe. So manches Wetter hatte ihn gezaust, so mancher Knorren war verdorrt, aber noch widerstand er jedem Sturm, noch wölbte sich die Krone und noch behauste er die Raben. In seinem Gezweig hatten sie seit jeher gesessen, hatten vieles gesehen und nichts vergessen.

Ich bin der Rabe im Baum. Meine Ahnen zählten zu den Auserwählten, die Noah mit in den Kasten nahm vor kaum denkbarer Zeit. Mein Urrabenvater, der Gedächtnis hieß, hat uns die Fähigkeit zur Entsinnung vererbt, die Gabe der Unvergesslichkeit, die kein anderes Geschöpf unter dem Himmel besitzt. Ich weiß alles, bis auf das wenige, das Gott für sich selber behielt.

Wenn die Mittagstunde schlägt, sitze ich auf dem Dach des Rathauses und beobachte die Verwaltenden, wie sie in ihre Pause aufbrechen. Jeden Tag schlägt die alte Kirchwärterin die Glocke zur gleichen Stunde. Im Winter wie im Sommer sitze ich und beobachte, sehe, wie die Zeiten sich wandeln, Menschen kommen und gehen und die Luft sich verändert.

Und hätte ich die Schwingen des Adlers und eine Stimme wie er, würde ich fliegen und das Ächzen von Mutter Erde unter menschlicher Herrschaft verbreiten. Aber ihr Klagen bleibt ungehört.

Ich bin der Rabe im Baum und ich erzähle die Geschichte, wie sie war. Blau und blau war der Himmel so blau.

*****

Der letzte Tag im Oktober

Der letzte Tag im Oktober hatte sich in dichten Nebel gehüllt. Es war bereits später Vormittag, doch wirkte alles dämmrig. So, wie weit vor Sonnenaufgang. Was hatte sie nur, die Sonne, es schien, sie war von ihrer Bahn wieder heruntergestiegen, um sich hinter den flachen Wiesen zu verkriechen. Es lag auch eine gewisse Spannung in der Luft, die Menschen warteten mit Ungeduld auf das wichtigste Ereignis des Jahres vor dem Weihnachtsfest. Das war vielleicht der Grund für den Verdruss der Sonne und hatte dazu geführt, dass die Finsternis selbst am Tage die Oberhand behielt.

Kay strebte an diesem Vormittag auf seinem Fahrrad der Kaufhalle zu. Er musste sich auf seine Weise auf Halloween vorbereiten und noch flott zwei Tüten Äpfel einkaufen. Die Apfelernte war in diesem Jahr sehr schmal ausgefallen.

Auf der Wiese neben dem Weg versammelten sich zu dieser Zeit scheinbar sämtliche Krähen der Gegend. Zu sehen waren sie nicht, dicker Nebel verhüllte sie. Nur das vielstimmige Krah und Kräh war zu hören. Was hatten die Vögel gerade heute dort auf der Wiese zu tun?

Während Kay noch über diese Frage nachsann, nahm ihn schon der nächste Gedanke in Anspruch: Was würde er am heutigen Abend tun?  Zu Hause bleiben hieß, den abendlichen Spuk und das törichte Geschrei „Süßes oder Saures“ zu ertragen, die Tür zu öffnen und die verlangten Süßigkeiten herauszugeben. Nein, in dieses Schicksal würde er sich nicht fügen.. Nicht die Kilotüte Bonbons! Im letzten Jahr hatte er den Kindern Äpfel geschenkt.

Während er so fuhr, fiel sein Blick auf eine Hecke, die vollständig mit einer Plastefolie eingehüllt war und als Knaller hockte mittendrin eine riesige Spinne, gefühlt einen Meter Durchmesser. Zwei Gärten weiter war eine sargähnliche Kiste ausgestellt, unter dem Deckel hing eine Knochenhand heraus.

Kay schüttelte bekümmert den Kopf, sah nur noch auf den Weg, kaufte die Äpfel und fuhr zurück. Auf dem Rückweg beschloss er, den Abend nicht zu Hause zu verbringen, keine Äpfel zu verschenken und auch keine Bonbons, die hatte er nicht gekauft. Ein Spaziergang durch die Siedlung war die Lösung und vielleicht würde er auch herausfinden, was die Eltern mit ihren Kindern auf die Straße trieb, was sie so an der Ausstellung von Schauerlichkeiten faszinierte, warum Kinder, die gerade das Laufen gelernt hatten, Angst und Schrecken erleben sollten. Möglicherweise sollten sie das Fürchten lernen? Denkbar war auch, dass er gar nicht verstand, worum es bei diesem abendlichen Spuk ging. Jedenfalls hatte er einen Plan und das stimmte ihn etwas versöhnlicher.

Die Stunden bis zum Abend schleppten sich mühsam dahin. Nachdem Kay nach Hause zurückgekehrt war, nahm er doch eine Schüssel aus dem Schrank, legte einige Äpfel hinein und stellte sie auf das Regal neben der Eingangstür. Nur für den Fall…

Endlich läuteten die Kirchenglocken die sechste Abendstunde ein.

Kay nahm seine gelbe Jacke vom Bügel, setzte seine Wollmütze auf und ging in den Vorraum, um die Schuhe anzuziehen. Noch ein Blick auf die Schüssel mit den Äpfeln, dann trat er vor die Tür, wäre aber fast mit einem Wesen zusammengestoßen, das dort schon stand. 

„Huch, wer bist du denn?“, fragte Kay etwas verdattert. „Süßes oder Saures!“, antwortete die Maske.

„Wo kommst du denn her?“ Auch die Frage blieb ohne Antwort, stattdessen streckte ihm das Wesen mit beiden Händen eine Tüte entgegen.

Komisch, dachte Kay, kein Kind, eher ein junger Mann  mit einer Maske, die ein kaltes Gesicht in schwarz-weiß abbildete.

„Du willst also nicht mit mir reden, na gut. Möchtest du einen Apfel?“ Zum Zeichen des Einverständnisses blieb die vorgestreckte Tüte geöffnet. Kay nahm einen Apfel aus der Schale und legte ihn in die Tüte. Ohne ein Wort drehte sich der junge Mensch um und steuerte den Eingang des Nachbarhauses an. Hm, den Jungen kenne ich, nur woher? Er überlegte. Jetzt kam er gerade nicht darauf, aber es würde ihm noch einfallen. Es kam ihm auch merkwürdig vor, dass der große Junge ganz allein unterwegs war.

Kay ging Richtung Hauptstraße los, lief dort den Fußweg bis zur nächsten Kreuzung und bog  in die Siedlung ein. Schon von weitem war eine größere Menschenansammlung zu sehen, die eine Grundstückseinfahrt belagerte. Hier schien alles normal, vier oder fünf Kinder im Kindergartenalter standen auf dem Gehweg. In der Einfahrt stand ein Erwachsener mit einem Umhang, auf dem ein Knochengerippe leuchtete. Die Maske war dazu passend. Er hielt den Kindern einen Korb entgegen, und alle zogen sich Bonbons und Lutscher heraus. Hinter den Kindern warteten mindestens zehn Erwachsene. Zwei Frauen trugen einen beleuchteten Kopfputz, die Männer wirkten eher gelangweilt mit Händen in den Hosentaschen. „Kommt gerne wieder im nächsten Jahr“, hauchte das Gerippe mit einer Frauenstimme, „jeder wird etwas bekommen“.

Durch die Hecke war rotes Flackern zu sehen und man hörte Geräusche, die Kay noch aus Kindertagen von der Geisterbahn kannte.

Die Gesellschaft zog weiter. Der Mann überholte sie und bog in die nächste Seitenstraße ein. Ziemlich weit hinten in dieser Straße zuckten weiße und rote Lichtblitze über die Dächer und es waren, wenn auch noch undeutlich, diese dumpfen Geräusche aus der Geisterbahn zu hören. Das war wohl so ein echter Halloween-Hotspot. Und dorthin strebte eine größere Gesellschaft, die gerade aus der letzten Querstraße einbog.

Jetzt flinke Füße, dachte Kay, da gibt es was zu sehen. An einem Gartentor warteten zwei kleine Feen mit ihren Eltern geduldig darauf, dass sich die Tür öffnete. Das Haus sah dunkel aus, nichts regte sich. Bei mir zu Hause könnt ihr auch so lange klingeln, bis ihr schwarz werdet, dachte Kay und sagte noch im Vorbeigehen: „Dahinten gibt’s Süßes und Spaß“. „Wir kommen gerade von dort, das war nicht gerade lustig“, hörte er die Frau noch sagen.

Im Laufschritt erreichte Kay das Ende der Gesellschaft. Mehrere Kinder hatten sich in der Einfahrt aufgestellt und schrien „Süßes, sonst gibt’s Saures“. Eine stattliche Zahl von Erwachsenen sperrte die ganze Straße und ein wenig im Hintergrund hielten sich auch noch drei Jugendliche auf. Oh- dachte Kay. Die Maske habe ich vorhin schon gesehen. Das wird sich aufklären.

Erstmal stellte er sich auf die Zehenspitzen, um in die Einfahrt hineinsehen zu können. Neben dem Haus war in der offenen Garage eine Party im Gange: Männer mit Bierflaschen, Glühweindunst wehte von dort her, und aus großen Lautsprechern dieses dumpfe, ziehende Stöhnen und Krächzen.

Die Kinder riefen noch einmal: „Süßes, sonst gibt’s Saures“. Ein Mann mit Umhang und Hexenhut trat aus der Garage heraus und rief: „Hier ist Selbstbedienung, traut euch einfach!“ Er wies mit einer übergroßen Hand auf den Sarg, der an der Einfahrt stand. Von beiden Seiten wurde nun beobachtet, was passieren würde. Aber niemand traute sich.

Eine Mutter mit Feenausstattung stupste ihren Sohn an, der in der zweiten Reihe stand, und forderte ihn auf: „Friedrich, nun trau dich doch“. Aber Friedrich traute sich nicht. Dann hopste die kleine Lina nach vorne, klopfte auf den Sargdeckel, der sich langsam öffnete. Aus dem Inneren der Kiste hob eine Knochenhand eine Schale mit Süßigkeiten über den Rand. Lina packte mit beiden Händen mindestens fünf Lutscher und hopste triumphierend wieder zurück. Der Deckel schloss sich, die Gesellschaft in der Garage johlte. Eltern klatschten Beifall. Danach traute sich noch ein etwas größeres Mädchen. Rote Lichtblitze huschten über die Gesichter. Das Getöse aus den Lautsprechern ging in ein gellendes Lachen über. Der Sargdeckel öffnete sich, die Knochenhand hob die Schale hoch, das Mädchen griff hastig zu, erwischte mehrere Lutscher, einer fiel ihr aus der Hand. Sie stolperte, fiel hin und auch die übrigen Lutscher gingen verloren. Weinend kehrte sie auf die Straße zurück. Eine Mutter tröstete, aus der Partygarage klang Gelächter zur Straße herüber.

 Als Letzter trat ein Junge aus der Gruppe der Jugendlichen vor, schlappte cool und scheinbar gelangweilt zu dem Sarg und  trat mit dem Fuß dagegen. Der Deckel blieb geschlossen. Er deutete  mit einer Verbeugung eine Entschuldigung an, nichts rührte sich. Ein schauriges Lachen dröhnte noch mal von der Garage herüber, und als es verhallte, wandte sich der Junge ab und trat wieder auf die Straße. Die Gesellschaft in der Garage zeigte kein Interesse mehr. Derweil wurde auf der Straße darüber diskutiert, wohin man weiter ziehen sollte. „Lasst uns noch bis ans Ende gehen“, schlug ein Vater vor. Linas Mutter erwiderte darauf: „Das bringt nichts. Dahinten wohnt bloß noch die Lehmann, die alte Hexe, die rückt nie was raus.“ Damit war Lina überhaupt nicht einverstanden. Sie fragte ihre Mutter empört: „Wieso sagst du, dass Alicias Oma eine alte Hexe ist?“

„Ach, du mein Engelchen“, erwiderte die Mutter, „das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte sagen, vielleicht hat sie sich als Hexe verkleidet.“

„Ich möchte bei Alicias Oma klingeln“, beharrte Lina. Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie mit den beiden anderen Mädchen aus ihrer Kindergartengruppe los. Die ganze Gesellschaft folgte ihr, Kay und die drei Jugendlichen ebenfalls mit etwas Abstand.

Am Garten von Frau Lehmann angekommen, riefen die drei Mädchen: „Süßes oder Saures!“, eine Klingel gab es nicht. Nichts passierte. „ Ihr müsst lauter rufen, sie hört vielleicht schwer.“  Hinter der Eingangstür wurde ein Lichtschein sichtbar und dann trat Frau Lehmann selbst vor die Tür. Ein bisschen wirkte sie schon wie eine Hexe, sie hatte sich eine Fellweste übergeworfen, ein Kopftuch auf, nur die lange spitze Nase fehlte, und dann kam das, was Linas Mama schon erwartet hatte. „Warum macht ihr hier so einen Lärm, was wollt ihr hier? Geht nach Hause und putzt euch lieber eure Zähne, wenn ihr so viel Bonbons esst. Hier gibt es keine Bonbons.“

„Sag ich doch“, raunte Linas Mutter ihrer Nachbarin zu, „die hat schon nichts gegeben, als wir Kinder früher  an ihrer Tür geklingelt haben. Ist eben doch eine alte Hexe“.

Die Lehmann war wieder hinter ihrer Tür verschwunden und vor dem Gartentor wurde Empörung über derartiges Verhalten laut. Man beschloss, die Straße zurück zu gehen. Während sich die ganze Gesellschaft in Bewegung setzte, blieben die Jugendlichen und auch der Mann noch etwas unschlüssig stehen. In diesem Moment öffnete sich die Haustür nochmals und Frau Lehmann kann wieder heraus. „Na Jungs, wenn ihr euch traut, kommt doch einfach morgen zu mir. Ihr habt doch Ferien und ich brauche Hilfe und dann gibt es noch ein Geheimnis zu entschlüsseln. Ich muss nämlich mal in meine Schatztruhe reinschauen, aber der Deckel ist so schwer und ich bekomme ihn alleine nicht mehr hoch.“ Einer der Jugendlichen fragte: „Sollen wir es vielleicht gleich versuchen?“

„Nein, nein, erwiderte Frau Lehmann, so eilig ist das nicht. Ist es morgen um zehn recht?“

„Ganz schön früh, geht es auch um elf?“, wandte einer der Jungen ein.

 „Na gut, dann um elf.“ Und an den Mann in der gelben Jacke gewandt fuhr sie fort: „Kai, wenn du Zeit hast, komm doch bitte morgen Nachmittag bei mir vorbei, ich habe eine etwas knifflige Frage, vielleicht kannst du mir etwas raten. Nur jetzt nicht, ich muss einiges vorbereiten für morgen“.

„Das passt, ich möchte dich morgen auch was fragen. Ich komme am Nachmittag.“

Währenddessen hatte Kay den Jugendlichen mit der Maske noch einmal eingehend betrachtet und dann fiel es ihm ein. Der hatte doch bei der Märchenkampagne mitgemacht. Er wandte sich an den Jungen. „Du bist doch Christopher?- wir haben doch mal zusammen – „Genau“, sagte er und Sie sind der Bär“. –„Stimmt, übrigens hat Frau Lehmann früher auch mitgemacht, sie war meistens eine Fee.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile vor Frau Lehmanns Haus und dann ging jeder seiner Wege.   

Wie sich am nächsten Tag herausstellte, war die Sache folgendermaßen weitergegangen:

Christopher, Janis und Eric trafen sich am Vormittag des ersten Novembers kurz nach elf vor Frau Lehmanns Haus. Die Tür war nur angelehnt.

„Dürfen wir?“, fragte Janis durch die halb geöffnete Tür. 

„Kommt rein“, war Frau Lehmann von drinnen zu hören und sie traten durch einen kleinen Flur in eine helle und geräumige Wohnküche. Frau Lehmann drehte sich vom Herd zu den großen Jungen.

„Seid ihr ausgeschlafen, habt ihr schon gefrühstückt?“ Sie stand lächelnd in ihrer Küche und sah gar nicht so wie eine Hexe aus. Hinzu kam, dass die ganze Küche von einem wohligen Duft ausgefüllt war. Frau Lehmann wies auf den Korb, der mit Backwerk gefüllt auf dem Tisch stand. „Ich habe Reformationsbrötchen gebacken, gestern war nicht nur Halloween, sondern vor allem Reformationstag. Das kennt ihr sicher nicht. Zum Reformationstag hat meine Mutter immer diese Brötchen gebacken und ich mache das jetzt auch. Nehmt euch!“

Christopher staunte, das alles wollte so gar nicht zu einer geizigen Hexe passen.

Sie blieben stehen, probierten die Reformationsbrötchen, der Duft in der Küche machte Appetit.

Eric sah sich währenddessen um und plötzlich stieß er Janis an und zeigte auf eine alte Truhe mit gewölbtem Deckel und Metallbeschlägen. „Solche Truhen habe ich schon oft geöffnet und durchsucht. Wusste gar nicht, dass es sie wirklich gibt. Es gibt sie tatsächlich. Da steht sie einfach so! Ist der Hammer.“ Er kam aus dem Staunen nicht heraus und dann erfasste ihn die Ungeduld. „Können wir jetzt mal den Deckel der Truhe aufmachen?“

„Geduld! Die Truhe läuft nicht weg. Erst brauche ich eure Hilfe. Hinter dem Haus liegt das Laub noch unter den Bäumen, das hätte gestern schon zusammengefegt sein müssen, aber ich schaffe das nicht mehr allein, bin eben doch schon alt wie eine Hexe. Ihr schafft das zu dritt in einer halben Stunde und dann wollen wir uns den Geheimnissen zuwenden.“

Frau Lehmann zeigte den großen Jungen, was im Garten zu tun war und kehrte in ihre Küche zurück. Nach einer halben Stunde war die Arbeit im Garten getan und  die Jungen kamen wieder  in die Küche. Auf dem Tisch lag schon der große Schlüssel für die Truhe bereit und sie verständigten sich darauf, dass Eric die Truhe öffnen durfte. Eric, der sich mit Truhen auskannte, fand auch schnell heraus, wie das Geheimfach zu öffnen war. Darin lag ein schmales, altes Buch. „Ist ja nicht so spektakulär, was wir da gefunden haben.“ Christopher war sichtlich enttäuscht. „Und der andere Kram, ein altes Radio, ein Paar Stiefel?“

„Also“, begann Frau Lehmann, „ganz unten in meiner Truhe liegt mein Hochzeitskleid, schon seit fünfzig Jahren. Da liegen auch dieses Paar Gummistiefel und ein Helm. Die Sachen wollte damals mein Freund noch abholen, als er ging, ich habe sie bis heute aufbewahrt. Den Sternrekorder habe ich zum Abitur bekommen. Da gibt es noch verschiedene Sachen. Was sich eben so ansammelt über die Jahre. Es sind meine Schätze, für euch nichts Besonderes. Wenn ihr wollt, lese ich euch jetzt eine Geschichte aus diesem kleinen Buch hier vor. Diese Geschichten erzählen von einer längst vergessenen Zeit.“

Sie setzte sich an den Küchentisch und die Jungen folgten ihr. Sie schaute etwas belustigt auf die großen Jungen, die artig am Tisch Platz genommen hatten. Wie lange war das her, als sie ihren Kindern Geschichten vorgelesen hatte? Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, ob das heute noch funktionieren würde, eine Geschichte vorlesen? Die Jungen ihrerseits betrachteten Frau Lehmann, die ihre Brille aufgesetzt hatte und Bilder aus frühen Kindertagen wurden wieder lebendig.

Frau Lehmann schlug die Geschichte auf, die ihr schon damals als Kind am besten gefallen hatte und begann zu lesen:

„Es war zu jener Zeit, als  in der schottischen Grafschaft Argyll die Menschen in ihrer irdischen Welt streng getrennt lebten von der anderen Welt, der Feen, Dämonen und Geister. Den Menschen war es nicht vergönnt, auch nur einen flüchtigen Blick in die andere Welt zu werfen, und so kam es, dass sie sich sehr viele Gedanken darüber machten, wie es denn in der anderen Welt aussehe, was diese Feen und Dämonen und die übrigen Geister den ganzen Tag zu tun hatten, wie diese über die Menschen dachten und warum sie manchmal in der irdischen Welt erschienen.

Wenn ein furchtbares Unwetter über Hof und Feld hinweg zog, es blitzte und donnerte, Krankheiten ausbrachen, die Ernte misslang oder eben eine Familie zwölf Kinder hatte, beim Pflügen auf dem Acker ein Beutel mit Silbermünzen zum Vorschein kam oder die Kuh zwei Kälber zur Welt brachte. Dann hatte das alles nach den Vorstellungen der Menschen seinen Ursprung in der anderen Welt, die auf diese oder jene Weise das Tun der Menschen tadelte oder auch belohnte. Es war allen klar, dass Feen und Dämonen Türen hatten, durch die sie nach ihrem Belieben die irdische Welt aufsuchen konnten. Bloß umgekehrt ging das nicht. Nur einmal, am Ende des Lebens eines jeden Menschen öffnete sich eine Tür in die andere Welt. So glaubte man und erzählte es sich schon über viele Jahrhunderte.
Und genau zu dieser Zeit saß Jacob Carmichael mit betrübtem Gesicht in seiner Küche und höhlte verdrossen eine Kohlrübe aus. Ein solches Durcheinander hatte er in seiner Hütte lange nicht erlebt, seine fünf Kinder jagten sich gegenseitig um den Küchentisch, nahmen einander ihre Mützen oder Tücher weg, haschten nach den herunterfallenden Rübenschnitzeln, die sie sich abjagten und gierig in den Mund steckten. Alle Versuche, die Kinder zu beruhigen, waren ihm misslungen. Er war aber auch deshalb betrübt, weil seine Frau, die am Herd stand, sich nicht kümmerte. Das schien aber nur so.

Während sie einen duftenden Brei rührte, hatte Kayleigh mehrfach über die Schulter geschaut und natürlich bemerkt, dass keines der Kinder auf den Vater hörte, und dies ihn bekümmerte. Es war wohl die Zeit gekommen, um einzugreifen,

Mit ihrer Bassstimme brachte sie augenblicklich Ruhe in die Küche: „Jetzt ist aber Schluss, Kinder. Wenn das hier so weitergeht, muss ich glauben, dass ihr die Geister seid, die hier ihren Schabernack treiben und dann werde ich euch vor die Tür setzen. Mädchen, ihr holt eure Stricksachen und jedes strickt an seinem Socken weiter. Und ihr Jungen nehmt eure Schnitzmesser und arbeitet an den Holzfiguren, alle an den Tisch und keinen Mucks mehr“.
Der Vater atmete auf, als Ruhe eingekehrt war. Ein Glück, sie hatten nur fünf Kinder, nicht sieben oder zwölf. Nun ging auch ihm die Arbeit leichter von der Hand.

Nach einer ganzen Weile fragte Rose, die Jüngste: „Mama, wann gibt es endlich Süßes? Ich bin so ungeduldig und habe Hunger.“
„Wenn ich es sage, wenn es so weit ist.“
Alle arbeiteten schweigend weiter, und endlich war der Brei auf dem Herd fertig. Auch Jacob Carmichael hatte die Rübe ausgehöhlt. Nun fehlte bloß noch ein Holzspan und wenn dieser im Hohlraum der Rübe steckte, konnte er angezündet und das Licht nach draußen gestellt werden.
Die Mutter wandte sich an die Mädchen: „Stellt flink sieben Schüsseln auf den Tisch, für jeden einen Löffel und ihr Jungen könnt schon mal die große Truhe öffnen und das Buch herausnehmen, aus dem Großmutter immer vorgelesen hat.“
Gordon und Connor legten ihre Schnitzmesser beiseite, öffneten die Truhe und nahmen aus dem kleinen Seitenfach mit dem Deckel ein Buch heraus, das einzige Buch, das es im Haus der Carmichaels gab.
Bald war alles bereit: Die Schüsseln standen auf dem Tisch, der Topf mit dem Brei, ein Krug mit dickflüssigem Rübensaft und eben dieses Buch. Und so war es schon immer: Im vorigen Jahr, im Jahr davor und auch in dem Jahr davor. Nur die Großmutter saß nicht mehr mit ihnen am Tisch.
Kayleigh Carmichael schlug das Buch auf, schaute noch einmal über die zufriedenen Gesichter der Kinder und des Mannes, legte den Holzspan beiseite, der die richtige Seite markierte und begann zu lesen:
Die McPhersons hatten über viele Jahre ein für die schlechten Zeiten doch glückliches Leben geführt. Charlie McPherson hatte fünf Mädchen zur Welt gebracht. Sie wuchsen heran, halfen in der Küche und in der Wirtschaft und waren den Eltern eine große Hilfe. Als sie erwachsen wurden, heiratete eine nach der anderen und im Haus der McPhersons wurde es zusehends stiller. Drei der Töchter wanderten mit ihren Männern nach Amerika aus und seither hatten die McPhersons nie wieder etwas von ihnen gehört. Charlie McPherson empfand darüber großen Kummer. Die beiden Jüngsten zogen mit ihren Männern auf benachbarte Inseln. Aber auch die Kunde von dort gab keinen Anlass zur Freude. Der Scherenschleifer, der viel herumkam, hatte berichtet, dass die jüngste ihrer Töchter sich bemühte, ein Kind zur Welt zu bringen, es aber nicht so recht gelingen wollte. Die ältere war mit einem Mann verheiratet, der mehr trank, als dass er in der Wirtschaft arbeitete. So zumindest die Kunde, die der Scherenschleifer brachte. Nachdem alle Töchter aus dem Haus waren, wurde es im Haus der McPhersons einsam. Seither folgte ein Unglück auf das andere.
Mitten im August wurde der große Apfelbaum von einem Blitz getroffen, und der heftige Sturm, der das Unwetter brachte, riss den Baum auseinander. Er taugte nur noch als Brennholz. Im Jahr darauf geriet der Misthaufen in Brand, den Malcom McPherson mühevoll über Jahre aufgerichtet hatte und das Feuer griff auf die Vorratskammer über. Es folgte ein Winter, in dem die McPhersons viel Hunger erdulden mussten. Ein Jahr darauf wurde Charlie McPherson von einer Krankheit heimgesucht, und sie konnte über viele Wochen ihr Bett nicht verlassen. Malcom McPherson schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang alleine. Die Sorgen hatten seinen Rücken gebeugt, und das Haar hing ihm schlohweiß auf die Schultern.
In der Nacht auf den Winteranfang lag er, so wie auch viele Nächte zuvor auf seinem Lager und Schlaf wollte sich nicht einstellen. Die Sorgen wollten auch in der Nacht nicht von ihm weichen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, der Rücken schmerzte ihm, und er lauschte auf die Geräusche im Haus, die zeitweilig vom Heulen des Windes übertönt wurden. Da war es wieder, dieses Klick Klack in der Vorratskammer. Das hatte er schon oft gehört, den Grund aber nicht finden können. Er stand auf, entzündete einen Holzspan an der Ofenglut und schlurfte in die Vorratskammer. Nichts regte sich, kein Geräusch war zu hören. Wenn er doch wenigstens sehen könnte, wer dort seinen Schabernack mit ihm trieb. Verdrossen legte er sich wieder auf sein Lager.

Kurz vor dem Morgengrauen war er wohl doch eingeschlummert. Eine wohlige Wärme hatte ihn umfangen und langsam ordneten sich auch die Bilder in seinem Kopf. Und bald konnte er ganz deutlich sehen, wie eine Frauengestalt in einem hellgrünen Kleid aus dem nahen Forst heraustrat und auf ihn zukam. Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen. Vielleicht war es eine seiner Töchter. Nein, er kannte diese Frau nicht. Oder hatte er sie nicht doch schon einmal gesehen? An dieses Kleid konnte er sich erinnern. Als sie vor ihm stand, sprach sie ihn an:

„Mama“, unterbrach Louise ihre Mutter,  „Großmutter hat es immer anders vorgelesen, das ist nicht die richtige Geschichte.
„Doch, doch, das ist die richtige Geschichte. Großmutter hat sie nur etwas anders erzählt. Großmutter konnte nicht lesen.“ Dann fuhr sie fort:
„Malcom, du hast in den letzten Jahren viel Unglück erdulden müssen. Ich habe das alles gesehen und ich bin gekommen, dir den Weg zu zeigen, deine Sorgen zu vertreiben. Ich muss dir aber sagen, helfen kannst du dir nur allein.“
Malcom starrte die Frau ungläubig an: „Wer bist du? Und wie kommst du in meine Hütte?“
„Ich bin eine Fee. Ich bin genauso eine Fee, wie sie in dem Buch beschrieben wird, das in deiner Truhe liegt.“
„Aber ich kann doch gar nicht lesen.“
„Ja, Malcom, ich weiß, deswegen will ich dir helfen. Ich komme viel herum und ich sehe auch sehr viel.“
„Hast du meine Töchter gesehen, die in Amerika?“
„Ja, natürlich ich war da, es geht Ihnen prächtig. Sie haben fleißige Männer, säen und ernten, haben Kinder, und in der Wirtschaft steht es gut. Auch deine beiden Töchter auf den Inseln haben keinen Grund zur Klage, ihr müsst euch nicht sorgen. Glaube nicht, was der Scherenschleifer erzählt. Er schwatzt viel, wenn der Tag lang ist.
„Du warst auf den Inseln? Hast du meine beiden Jüngsten gesehen?“
„Ja, noch einmal, ich habe sie gesehen, alles steht gut. Dir will ich heute sagen, du hast in deinem Leben sehr viel Richtiges getan, aber so manches ist dir eben auch misslungen. Du hast es einfach nicht bemerkt.“
„So, was meinst du denn?“
„Jedes Unglück, das dir widerfahren ist, hat auch seine Gründe. Nimm zum Beispiel die Sache mit deinem Apfelbaum: Solange noch deine Töchter in deinem Haus lebten und dir in der Wirtschaft halfen, haben sie dich dazu überredet, niemals alle Äpfel zu pflücken: Für die Amseln in deinem Garten und auch den Specht aus dem nahen Forst. Auch ich bin so manches Mal gerne durch deinen Apfelbaum geflogen und habe mir im Herbst einen Apfel gepflückt. Auch mir haben deine Äpfel gut geschmeckt, und nicht nur mir. Und irgendwann hast du begonnen, die Äpfel bis auf den letzten abzuernten. Nichts blieb mehr für das Getier auf der Erde und für uns, die Geister. Einen Hitzkopf aus meiner Welt hat es mächtig geärgert und als er ohnehin damit beschäftigt war, ein kräftiges Unwetter zusammenzubrauen, hat er es auch bei dir vorbei geschickt und deinen Baum gefällt. Das war sicherlich nicht nett und doch haben sich alle gefragt, woher kommt dieser Geiz, diese Unachtsamkeit, den Tieren und den Geistern gegenüber?“
Malcom spürte, wie sein Herz schneller klopfte, Schweiß über sein Gesicht ran und er stammelte: „Ich habe das nicht gewollt, ich habe das nicht so gemeint.“
„Du hättest es fühlen und auch sehen können. Du bist nicht allein auf dieser Welt, und die andere Welt gibt es auch noch. Und kannst du dich auch daran erinnern, dass deine Frau Charlie dich gebeten hatte, mit dem Schwager auf die Inseln zu reisen, um eure beiden Töchter zu besuchen? Deine Frau hatte dir schon lange ihren Kummer geklagt. Du aber warst so hartherzig und hast sie nicht gehen lassen. „Wer soll sich um den Haushalt kümmern, wer bei der Ernte helfen? Und wieso denkst du immer nur an dich?“, hast du ihr vorgehalten. Du hast sie nicht mitreisen lassen und sie wollte ja nur wissen, ob es euren beiden Töchtern dort auf den Inseln gut geht. Und dann ist ihr Kummer so weit angewachsen, dass sie sehr krank wurde und viele Wochen lang nicht mehr aufstehen konnte. Auch das hast du ihr vorgehalten, dass du nun den Haushalt und die Wirtschaft allein besorgen musst. Und ich will dir heute ehrlich sagen: Den Scherenschleifer habe ich dir geschickt.“
Malcom stöhnte schwer auf: „Aber warum das alles? Was hätte ich tun sollen?“
„Und weißt du noch, das liegt jetzt schon einige Jahre zurück, als dein Nachbar dich gebeten hatte, am Abend vor Winteranfang zwei deiner Töchter zu ihm zu schicken? Seine Kinder waren damals alle schon lange aus dem Haus und die Nachbarn fürchteten sich an diesem Tag wie heute, dass einer dieser Geister aus der anderen Welt durch die Tür huscht, den ganzen Winter bleibt  und bis zum Frühling seinen Schabernack mit ihnen treibt. Du hast ihn ausgelacht. Und erinnerst du dich daran, dass ich dir damals erschienen war in meinem grünen Kleid. Du hattest mich gefragt, ob es stimmt, dass die Geister gerne mal, wenn es kalt wird, bei den Menschen unterkriechen und sie es nur dort nicht tun, wo Kinder lärmen und lachen. Ich hatte dir erklärt, dass am Vorabend des Winterbeginns die Türen unserer Welt zu eurer Welt weit geöffnet werden und wir Geister an diesem Tag gerne zu euch Menschen hereinschauen. Auch so manche verirrte Seele findet an diesem Abend den Weg zurück in eure Welt, um wenigstens einmal nach den Ihren zu schauen. Natürlich findet es so mancher Geist schöner, mit den Menschen zu überwintern, wo geheizt wird, wo es gut riecht, anstatt immer nur im Kalten und Dunkeln umherzuirren. Weil unsere Geister in der Welt der Menschen aber keine Aufgaben haben, wird es ihnen schnell langweilig und dann fangen sie an ihren Schabernack zu treiben, was wiederum die Menschen verdrießlich macht. Das alles wolltest du von mir wissen und ich habe es dir gesagt. Deinen Nachbarn hättest du ohne Not helfen können. Die Kinder hätten ihnen  in der heutigen Nacht die Geister ferngehalten. Du hast sie nur ausgelacht, und nicht geahnt. dass du eines Tages selbst in ihre Lage kommen wirst. Weil du so hartherzig zu deiner Frau und zu deinem Nachbarn warst, hat dich seither so manches Unglück heimgesucht. Du bist selbst daran schuld.“
Malcom erinnerte sich und begann laut zu jammern. Seine Frau erwachte davon, rüttelte ihn, wollte ihren Mann wach bekommen, um ihn von seinem schrecklichen Traum zu erlösen.   

Doch die Fee ließ Malcom nicht los.
„Du hast alles gewusst“, wiederholte sie unbarmherzig.
Malcom schluchzte: „Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“
„Werde ein achtsamer Mensch, sei niemals hartherzig, nicht gegen deine Frau, nicht gegen deine Nachbarn, nicht gegen die Tiere deiner Welt und auch nicht gegen uns, die Bewohner der anderen Welt. Besprich das mit deiner Frau Charlie, ich hatte das vor Jahren von dir schon verlangt und versprich ihr, dass du dich änderst.“
Malcom starte fassungslos auf die Fee. Langsam wurde ihr Bild immer blasser. Irgendwann sah er nur noch den Forst und auch der verschwand allmählich und wich dem Morgengrauen.
Als er aufwachte, war er pitschnass, und seine Frau Charlie beugte sich sorgenvoll über ihn.
„Bist du krank, Malcom?“
Mühsam rappelte sich Malcom hoch, setzte sich im Bett auf. Dann erzählte er seiner Frau, was er soeben erlebt hatte. Nachdem er ihr alles erzählt und sein Versprechen gegeben hatte, flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie schaute auf das Fenster der Schlafkammer und es schien ihr so, als habe ihr die Fee in dem grünen Kleid noch kurz zugewinkt.

Kayleigh legte den Holzspan in das Buch zurück und klappte es langsam zu. Alle schauten in diesem Moment zum Küchenfenster. Und es war genauso wie zu der Zeit, als die Großmutter die Geschichte vorlas. Alle meinten, am Ende der Geschichte die Fee mit dem hellgrünen Kleid hinter dem Fenster noch einen kurzen Augenblick zu sehen. Sie hatte ihnen auch heute zugewinkt.

Ein Leuchten des Glücks durchflutete die Küche der Carmichaels.

Dann wurde es wieder lebhaft, die Mutter begann die Schüsseln mit Brei zu füllen. Die Kinder verfolgten gespannt jede Bewegung des Löffels. Es wurde streng darauf geachtet, dass alle Portionen gleich groß waren, nur Jacob Carmichael bekam eine größere Portion. Dann war der Rübensaft an der Reihe, die Mutter zeichnete in jeder Schüssel eine schneckenförmige Figur mit dem dickflüssigen Saft. Kayleigh ermahnte die Kinder noch, bitte langsam zu essen, aber das ging schon im Löffeln und Schnattern der Kinder unter.

Nachdem sich alle satt gegessen hatten, wurden die letzten Aufgaben dieses Tages verteilt. Den beiden großen Mädchen wurde aufgegeben, nun zu den Taylors nach nebenan zu gehen. Die Nachbarn waren schon ziemlich alt und hatten keine Kinder mehr im Haus. Darum baten sie die Carmichaels jedes Jahr, ihnen am Vorabend des Winteranfangs ihre Kinder zu schicken, um unliebsame Geister zu vertreiben. Nur die Kinder, so wurde es seit vielen Generationen überliefert und erzählt, hatten die Macht dazu.

„Seid bitte höflich und bescheiden, wenn euch die Nachbarin zu Tisch bittet“, gab Kayleigh ihren beiden Töchtern Louise und Scarlett auf den Weg mit.

Rose und ihre beiden Brüder erhielten die Aufgabe, die ausgehöhlte Rübe mit dem glühenden Spahn nach draußen zu bringen.

„Stellt das Licht bitte nach hinten in den Garten, wo der Grünkohl steht. Wenn die Großmutter nach uns schauen will, wird sie gleich sehen, dass wir uns gut um ihren Grünkohl kümmern. Unser Haus kann sie dann leicht finden.“

Die Carmichaels meinten, dass es besser war, das Licht nicht direkt an der Eingangstür aufzustellen. Weil die Geister zu den Lichtern kamen, konnte es vorkommen, dass so ein Quälgeist unbemerkt durch eine geöffnete Tür hindurch huschte.

Spät am Abend kehrten Louise und Scarlett von den Taylors zurück. In dieser Nacht war es hell, ein zarter Wolkenschleier bedeckte den Himmel. Der volle Mond schob sich weit im Osten über die Wolken und sein Licht erleuchtete sie. Und in dieser Stunde vor Mitternacht hatten die Geister des Nordens den ganzen Himmel grün eingefärbt und es schien, die Wolken leuchteten in dem hellen Grün des Kleides, das die Fee getragen hatte.

Glücklich kehrten die beiden Mädchen nach Hause zu rück, sie brachten auch einen Korb voller Äpfel mit.“

 Frau Lehmann legte ihre Brille zur Seite, schloss das Buch und sah in die Gesichter der Jungen. Sie war sich anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob diese großen Jungen von heute einer solchen Geschichte folgen würden. Nun waren sie einigermaßen sprachlos, echt beeindruckt.

„Das hellt ja so manches auf“.

„Oh ja, Eric“, antwortete Frau Lehmann, „die Menschen sollten einfach wieder lesen, was in den  alten Büchern geschrieben steht.“

„Glauben Sie denn, dass es diese andere Welt mit den Geistern gibt?“, wollte Christopher wissen.

„Ich bin mir da nicht ganz sicher, auf jeden Fall steckt viel Wahres drin und ob es nun die Geister gibt oder nicht, ist für mich nicht so wichtig.“

Frau Lehmann wandte sich um und sah zum Küchenfenster hinaus, auch die Jungen folgten ihrem Blick. Vor dem Fenster entstand Bewegung. Es war jedoch nicht die Fee in ihrem hellgrünen Kleid. Ein Rabe, der auf dem Fensterstock schon eine ganze Weile gehockt hatte, sprang herunter und schwebte gemächlich davon.

„Jetzt gibt es Grießbrei mit Kirschsirup, so, wie in unserer Geschichte.“

*****

Ein Hauch von Frühling

Die Tage in der Mitte des Monates April nahmen mit ihrer sonnigen Milde schon einmal die für den Mai vorgesehenen Wonnen vorweg. Nach Tagen mit kalten Schauern, Frösten und wenig Licht war die Natur mit vielen Farben und noch mehr Stimmen erwacht. So waren die meisten Zugvögel an ihre Nistplätze des vergangenen Jahres zurückgekehrt. Die Nachtigall übte den ganzen Tag lang unermüdlich ihre Tonfolgen. Es würde wohl noch einige Tage dauern, bis sie ihre Lieder so wie im vergangenen Jahr singen konnte.  Der Kuckuck war auch schon gesehen worden, sagte aber noch nichts. Bis zum ersten Ruf des Kuckucks, der drei Tage vor Ende des Monates zu erwarten war, fehlten genau 12 Tage. Und in einer Senke des nahen  Weizenschlages standen zwei Kraniche und zupften die frische Saat. In einiger Entfernung, mehr hin zur Straße, hockte der Rabe und zupfte ebenfalls genussvoll den jungen Weizen.

Die Bewohner des Dorfes waren in diesen Tagen  damit beschäftigt, sich nach ihrem Verständnis auf den Frühling vorzubereiten. Im Festsaal des Dorfes hatten sich an diesem frühen Vormittag Frauen versammelt, um Schmetterlinge aus Papier, Dekoration für das bevorstehende Frühlingsfest, zu basteln. Vor dem Gebäude wurden aus einem Fahrzeug Bierkästen und Weinkartons ausgeladen und  hineingetragen. Den Flaschen folgte ein gewaltiger Holzkohlegrill. Mit einem weiteren Transporter waren zwei in orangen Latzhosen steckende Arbeiter angekommen und luden verschiedene Maschinen und Gerät ab. Der eine Mann  in Orange hängte sich ein Motorgebläse um und versuchte, die letzten, liegengebliebenen Blätter der Eiche auf dem Vorplatz in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Der andere machte sich mit einem laut fauchenden Brenner daran, das zarte Grün in den Fugen der Pflasterung zu vertreiben. Es erhob sich ein Höllenlärm.

Und obwohl es auf dem kleinen Vorplatz schon ziemlich eng war, versuchte der Mann mit seinem Fahrrad und den Gießkannen auf dem Anhänger nun auch noch, sich dort hindurch zu drängeln. Der Mann am Gebläse hörte auf, zu blasen und beobachtete misstrauisch, wie der nicht besonders zuverlässig wirkende Anhänger mit wenig Abstand zwischen den Fahrzeugen verschwand. Hier lauerte Gefahr, die von diesem Sonderling mit seinem Fahrrad und den Gießkannen ausging. Was sollte dieser Blödsinn mit den Gießkannen – dachte er bei sich – das Amt, also letztlich er in Orange allein hatte die Aufgabe, sich um die  Belange der Natur zu sorgen. Er gab seinem Kollegen mit dem Brenner an der anderen Seite des Vorplatzes Zeichen, um ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Dieser hatte bereits alles  im Blick, schüttelte heftig den Kopf und zeigte einen Scheibenwischer in Richtung Radfahrer. Dieser wiederum hatte die scheinbar ihm geltende Geste aus den Augenwinkeln beobachtet, zwang sich jedoch, den Ort der Frühlingsvorbereitung ohne weiteren Aufenthalt zu verlassen.

Mit zunehmender Entfernung zu den Frühlingsvorbereitungen stellte sich eine gewisse Ruhe ein und die ersten Vögel waren wieder zu hören. Dennoch war der Weg, den der Mann mit seinen Gießkannen schon mehr als hundert Mal zurückgelegt hatte, heute besonders holprig.

Er radelte mit seinem Anhänger leicht bergan und sah schon von weitem ein neues Hindernis, nun auf der Fahrradstraße. Auf dem Wiesenstreifen neben der Straße parkten  mehrere Fahrzeuge und auf deren Höhe, mitten auf der Fahrbahn stand so ein wuchtiger Pickup. Gehörte das auch zu den Frühlingsvorbereitungen?

Als der Mann näher heran war, bemerkte er zwei Männer und eine Frau, die auf dem Feld standen und rauchten. Um sie herum sprangen mehrere Hunde, die miteinander rauften oder  in ihrem Spiel über das Feld jagten. Das ganze Geschehen schien nur dadurch gestört zu sein, dass ein weiterer Mann in kariertem Hemd, an Rand des Feldes stehend, ziemlich aufgeregt auf die Hundebesitzer einredete. Beim Näherkommen erkannte der Mann auf dem Fahrrad den Karierten, das war der Landwirt, dem der Pickup gehörte, der nun die Straße sperrte.

Bei den Autos angekommen, stieg der Mann von seinem Fahrrad und schob sein Gespann vorsichtig an dem Pickup vorbei.

 „Das hier ist keine Hundewiese, hier wächst mein Weizen“, hörte er den Karierten empört in Richtung der Hundebesitzer rufen, „ runter von meinem Acker!“

Der Lange, ein Typ von vielleicht 35 Jahren, bestimmt über 1,90 m groß, leicht nach vorn gebeugt , wandte sich dem Landwirt zu und meinte: „Nun bleib mal locker, wir machen doch keinen Schaden, wir wussten nicht, dass die Wiese hier ein Feld ist.“  

„Aber jetzt wisst ihr es, Abfahrt!“

Da  mischte sich die Frau, eine schwarz gefärbte mit Tattoos am Hals in die beginnende Streiterei ein, nachdem sie ihre Zigarette weggeworfen hatte. „Nun übertreibst du aber ein wenig, können wir erst noch unsere Hunde einsammeln?“

„Seht zu, dass ihr verschwindet, ehe ich mich vergesse!“ Es begann ein Hagel von Beschimpfungen, die hier nicht wiederholt werden müssen.

Selbst der unbeteiligte Mann mit seinen Gießkannen zog instinktiv den Kopf etwas ein,  stieg wieder auf sein Fahrrad und rollte langsam in Richtung seiner Bäume davon. Bloß weg  hier, dachte er und hörte noch, wie der Karierte erneut  aufbrauste: „ich habe nicht die Zeit, mich mit euch Berlinern …“ Den Rest verstand er schon nicht mehr und war froh über die langsam zurückkehrende Stille. Er sah hinüber in die Senke, jedoch die beiden Kraniche hatten sich verzogen, auch den Raben konnte er nicht mehr entdecken.

Ohne weitere Komplikationen erreichte der Mann mit seinen Gießkannen die Wegbiegung, an der seine Bäume standen. Am anderen Wegrand  in einem Schneeballgebüsch trainierte die Nachtigall wie schon am Vortag ihre Lieder. Oder war es doch ein Sprosser? Das würde sich erst in einigen Tagen herausstellen, wenn alle Übungen abgeschlossen waren.

Während der Mann seine Bäume goss, dabei der Nachtigall zuhörte, die ersten Hopfenranken aus den noch jungen Bäumen herausfädelte, war auch der Landwirt mit seinem Pickup den Weg heraufgefahren, hielt an und ließ die Seitenscheibe herunter, sagte aber nichts.

Der Mann drehte sich mit einer Gießkanne in der Hand zu dem Fahrzeug herum und betrachtete für einen Moment den Fahrer. Er war so um die sechzig, weißhaarig, wirkte dadurch etwas älter und sah noch immer puterrot aus im Gesicht.

„Tachchen, ist das Unwetter vorübergezogen?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob diese nichtsnutzigen Hundeleute mich verstanden haben. Fast jeden Tag muss ich Hundebesitzer von den Feldern vertreiben. Frage mich manchmal, ob die in der Schule noch irgendetwas Nützliches lernen.“

Beide schwiegen eine Weile.

„Schwer zu sagen, wahrscheinlich sind sie nicht dumm, es fehlt ihnen nur das Wissen.“

„Sehr tröstlich, naja, ich muss  weiter.“ Der Pickup rollte langsam los.

Herrlich, dachte der Mann mit den Gießkannen, Frieden. Er sah sich jeden Baum nochmals gründlich an und war einfach zufrieden. Ja, man brauchte Geduld und Optimismus, den Rest löste die Natur allein. Er lud seine Gießkannen ein und rollte gemächlich zurück. Und er sah schon von Weitem, dass neues Ungemach oder besser das alte am Wegesrand wartete. Die Hundebesitzer hatten den Landwirt nicht verstanden oder es kümmerte sie einfach nicht, was er von ihnen verlangt hatte. Für den Mann mit dem Fahrrad gab es nur den einen Weg zurück, er musste dort an den Leuten mit den Hunden vorbei, wegsehen war ausgeschlossen. Eine innere Stimme flehte noch: “Häng dich da nicht rein, sind nicht deine Angelegenheiten“. Dann nahm das Unvermeidliche seinen Lauf.

Der Mann blieb mit seinem Fahrrad vor den parkenden Autos stehen und sah zu den Hundebesitzern hinüber. Die waren ein ganzes Stück in das Feld hineingelaufen. Drei Hunde tobten über den Acker, ein schwarzer Labrador, eine französische Bulldogge und ein Barsoi. Der etwas kleinere, leicht dickliche Mann warf ein Hundespielzeug im hohen Bogen über das Feld und die Hunde jagten los, die Erde spritzte auf und der junge Weizen flog ebenfalls  durch die Luft. Die Frau beobachtete das Geschehen und rauchte, der Lange telefonierte etwas abseits stehend. Niemand nahm von dem Radfahrer Notiz.

Geduld, dachte dieser, und außerdem habe ich Zeit.

Nach einer ganzen Weile hörte der Lange auf zu telefonieren, sah zu dem Fahrradfahrer hin und gimg gemächlich auf diesen zu. Mit einigen Metern Abstand blieb er am Feldrand stehen und sah den Fahrradfahrer ein wenig herausfordernd an, sagte jedoch nichts.

„Tachchen, das ist hier keine Hundewiese. Ich meine, ihr habt das heute schon mal gehört. Ist ein Feld, da wächst Weizen.“

„Und weiter?“ erwiderte der Lange.

„Nichts weiter,  geht mit euren Hunden doch einfach auf einen Hundeplatz und spielt dort mit euren Lieblingen.“

„Ja, ja, hast du sonst noch Neuigkeiten?“ fragte der Lange und wandte sich halb zum Gehen um. Den Radfahrer musste man nur ignorieren, dachte er, der ist harmlos.

„Darf ich dich noch was fragen?“ Der Radfahrer wollte den Faden nicht abreißen lassen.

„Was denn noch?“ gab der Lange zur Antwort.

„Ihr seid doch aus Berlin, wart ihr heute schon beim Bäcker?“

Der Lange sah verständnislos auf den Radfahrer, wo sollte diese Fragerei hinführen?

Der Fahrradfahrer begriff, dass der aufgenommene Gedanke nachgearbeitet werden musste.

„Ihr habt doch in Berlin fast an jeder Ecke eine Bäckerei, da holt man sich die Brötchen fürs Frühstück und den Kuchen zum Kaffeetrinken. Oder nicht?“

Der Lange ließ sich jetzt, wenn auch widerwillig, auf das Gespräch mit dem Fahrradfahrer ein. „Bei mir um die Ecke ist ein Bäcker aus dem Schwabenland, der backt alles selbst. Da habe ich heute Morgen meine Brötchen gekauft. Laugenbrötchen.“

„Na siehst du, würde ich auch so machen, hier gibt es weit und breit keinen Bäcker. Und dein Bäcker aus dem Schwabenland macht bestimmt Werbung damit, dass er regionale Produkte verarbeitet, wahrscheinlich aus dem Schwabenland.“

„Nein, nein, da liegen diverse Flyer aus. Dieser Bäcker verarbeitet nur Mehl aus regionalem Anbau für seine Backwaren. Ist doch in Ordnung, oder?“

„Sehr gut“, erwiderte der Mann auf dem Fahrrad,

„und hast du ne Peilung, wo das regionale Mehl wächst?“ Er schmunzelte leicht bei dieser Frage.

„Wie, wo das Mehl wächst? Du meinst, das Getreide?“

Der Radfahrer nickte. Übrigens waren die anderen Beiden mit den Hunden ebenfalls herangekommen. Die Hunde wirkten erschöpft, insbesondere die Bulldogge. Der Labrador umkreiste schwanzwedelnd den Langen, lief dann aber einige Schritte in das Feld zurück, hockte sich in den Weizen und packte sein großes Geschäft mitten hinein. Die  Hundebesitzer hatten den Vorgang mit großem Interesse verfolgt und auch der Fahrradfahrer konnte sich erst abwenden, als das Ergebnis sichtbar wurde. Der Hund sprang also wieder auf und ein großer Haufen blieb im Weizen liegen.

Unter dem Eindruck dieses Ereignisses nahm der Fahrradfahrer leicht belustigt den Gesprächsfaden wieder auf:

„Siehst du“, fuhr er fort, „die Sache liegt  doch auf der Hand, besser gesagt, vor uns mitten im Weizen. Regionaler Weizen kommt aus Brandenburg, quasi von diesem Acker hier, den ihr gerade mit euren Kötern verwüstet. Und wenn der Bauer doch noch Weizen ernten kann, das ist nicht sicher, dann wird dieser zu Mehl und in den Berliner Bäckereien zu Brötchen verarbeitet. Deine Laugenbrötchen werden aus Weizenmehl gebacken, aus Weizen von hier. Und morgen früh gehst du wieder mit deinem Liebling da zu dem Schwabenbäcker und kaufst Laugenbrötchen und ‘ne Brezel. Und danach wirst du mit deiner Freundin zusammen frühstücken, mit duftendem Kaffee und wenn du dein Laugenbrötchen genussvoll aufschneidest, wird dir ein Hauch von Hundescheiße um die Nase wehen. Das geht auch nicht mehr weg.“

Der Mann mit seinem Fahrrad konnte nicht weitersprechen, er prustete vor Lachen los, verschluckte sich, hustete und musste erneut loslachen. Nach und nach beruhigte er sich, winkte den Hundebesitzern kurz zu und fuhr davon.

Der Rabe übrigens, der die ganze Zeit auf der Toreinfahrt gegenüber gehockt hatte, hielt den Kopf etwas schief und bei genauerem Hinsehen hätte man sein Grinsen bemerken können.

*****

Lass uns wegziehen

Das Läuten der Dorfkirche verkündete die Mittagszeit. Die Sonne schien verhalten und mild, weil der Himmel mit einem zarten, milchigen Schleier überzogen war. Es wirkte so, als ob der ganze Himmel leuchtete und dieses Leuchten alle Schatten weggewischt hatte. Im Radio war am Morgen die Rede von Saharastaub gewesen.

 Die ersten Hummeln waren zu hören, machten sich an den Krokussen zu schaffen und wechselten zu den Blüten des Aprikosenbaumes. Die Blüten hatten in den letzten Nächten mächtig unter den Nachtfrösten gelitten, nur die Verspäteten entfalteten sich voll und lockten die Hummeln an.

Zu dieser Mittagsstunde musste die Post kommen, der Mann, der am Fenster stand und auf die Straße hinaussah, wartete schon seit einer Weile ungeduldig darauf, dass endlich das bestellte Buch geliefert werden würde.    

Dann war es so weit, der Postbote hielt an und warf  den gelben Umschlag in den Briefkasten ein.

Kay zögerte noch. Während der Zeit des Wartens  hatte er immer wieder daran zurückdenken müssen, wie er vor Tagen auf der kleinen Brücke, die über ein winziges Fließ führt, gestanden und die Veränderungen an dem kleinen Weiher zwischen Erlen und Weiden beobachtet hatte. Das Fließ, und hierin lagen die sichtbaren Veränderungen, schlängelte sich durch die von kleinen Landzungen und Bodenwellen durchbrochene Wasserfläche des Weihers hindurch und verschwand munter glucksend und ohne jedes Hindernis unter der Brücke. Noch vor wenigen Tagen war hier eine geschlossene Wasserfläche zu sehen gewesen. Das Fließ hatte sich an einem Damm aus Ästen, Blättern und Allerlei vor der Brücke gestaut.

Dann war auf der Brücke noch ein Mädchen mit seiner Mutter stehen geblieben und sie sahen lange schweigend zu dem Weiher hinüber. Das Mädchen begann leise zu schluchzen. Die Mutter legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens, zog es zu sich heran und versuchte es zu trösten. Alles half nichts, der Kummer war scheinbar zu groß.

Kay hatte lange mit den Händen auf das rostige Brückengeländer gestützt dagestanden und ahnte noch nicht, worin der Kummer des Mädchens bestand. Eigentlich hatte er etwas Tröstendes sagen wollen, ihm fielen jedoch keine passenden Worte ein und außerdem – was hätte er schon sagen können?

Von den Menschen auf der kleinen Brücke unbemerkt, überflog der Rabe auf dem Weg zu seinem Nachtquartier den Weiher und beschloss, dort in der Nähe der Brüche noch ein wenig zu verweilen. Der Rabe kannte Blanca. In den letzten Tagen hatte er, wenn die Dämmerung einsetzte, gerne in dem nahegelegenen Garten auf einem schon recht großen Apfelbaum gehockt und der Gute- Nacht-Geschichte zugehört, welche die Mutter ihrer Tochter im Kinderzimmer vorlas. Er konnte, bevor die Vorhänge zugezogen wurden, sehen, wie sich die Mutter jeden Abend zu Blanca auf das Bett setzte und das Buch aufschlug. Blanca hatte schon die Bettdecke bis an ihr Kinn hochgezogen und wartete ungeduldig. Der Rabe konnte den Titel des Buches sehen, es war jeden Abend dasselbe Buch und dieselbe Geschichte, die die Mutter vorlas. Nach der Geschichte löschte die Mutter das Licht im Zimmer, zog die Vorhänge zu und der Rabe flog  zufrieden davon.

Gestern hatte sich jedoch alles geändert.

Der Ärger begann am Morgen. Ein Trupp Arbeiter in grünen Hosen und Warnwesten war mit einem Transporter bis zu der kleinen Brücke gefahren, hatte einen Bagger abgeladen und begann, den Wall aus Ästen vor dem Brückendurchfluss abzutragen. „Und alles aufladen, dass mir nichts liegenbleibt, sonst baut der Bursche gleich wieder einen neuen Damm“, ordnete der Brigadier an.

„Ja, ja, dem Biber werden wir das Handwerk legen, ein für alle mal. Der wird sich wundern.“

„Genau, “ fügte ein weiterer Arbeiter hinzu, “der wird uns hier nicht mehr ärgern.“

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Das gesamte Baumaterial des Biberdammes wurde aufgeladen, dann legte der Bagger mit seiner Schaufel den Durchfluss unter der Brücke vollständig frei und auch dieser Schlamm wurde aufgeladen. Als das Wasser unter der Brücke hindurchschoss, standen die Männer oben auf der Brücke, rauchten, schnippten die Zigarettenstummel ins Wasser und sahen zufrieden zu, wie die Wasserfläche des Weihers kleiner wurde. Einige der Arbeiter zogen hohe Gummistiefel an und begannen, die Stämme der Erlen vor der Brücke mit Maschendraht zu umwickeln.

„Da wird der Biber einen guten Zahnarzt brauchen, wenn er das durchknipst!“ Es kam Gelächter auf.

Der Brigadier betrachtete das Tageswerk anerkennend und ordnete die Räumung der Baustelle an.

Der Rabe hatte das Treiben vor der kleinen Brücke mit wachsender Besorgnis beobachtet und war auch nicht weggeflogen, nachdem die Arbeiter abgerückt waren. Ihm war klar, dass der Biber den Damm nicht ohne Grund aufgerichtet hatte. Jetzt, nachdem der Wasserspiegel des Weihers um mehr als einen halben Meter gesunken war, würde das für den Biber Folgen haben. In diese Überlegungen verstrickt, empfand der Rabe zunehmend das Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung aufsteigen. Und er versuchte immer wieder, sich vorzustellen, wie der Biber mit diesen Veränderungen fertig werden würde. Gab es überhaupt eine Lösung?

Aus Richtung der Kirche erklang bereits das Abendgeläut und dem Raben kam es so vor, als hörte er aus dem hinteren Teil des Weihers aufgeregte Stimmen. Er wechselte  seine Position, flog an das andere Ende des Weihers und als die Glocken verstummten, konnte er jedes einzelne Wort verstehen.

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, wir hätten nicht hierher in die Nähe der Menschen ziehen sollen. Es gibt immer nur Ärger und alles, was wir uns geschaffen haben, zerstören sie.“

„Heute hast du Recht, aber als wir hierher kamen, waren die Häuser noch weit weg und du fandest das Plätzchen hier sehr idyllisch.“

„Ja, wir waren verliebt“, antwortete die Frau des Bibers, “wir wussten noch nichts von der Welt. Aber meine Mama hat immer gesagt, halte dich fern von diesen Menschen.“

„Das hilft uns jetzt nicht weiter: Wir müssen versuchen, unsere Burg in das verbliebene Wasser zu bauen.“

Der Rabe schaute von seiner Erle hinunter und sah, dass die Biberburg auf dem Trockenen stand.  Und es sollte sich sogleich zeigen, dass gewaltige Veränderungen bevorstanden. Der Biber hatte das letzte Wort vom Bauen kaum ausgesprochen, da fauchte seine Frau:

„Das kannst du voll vergessen! Wir haben Verantwortung für drei Kinder und du redest vom Bauen. Als wir hierherkamen, haben wir uns eine schöne Burg gebaut und dann, nach kurzer Zeit, sind uns die Menschen mit ihren Häusern fast auf den Pelz gerückt. Die Menschen kamen und das Wasser ist verschwunden und wir mussten neu bauen, haben Tag und Nacht gebuddelt und uns eine Höhle gebaut, wie es nur selten Art der Biber ist. Es hätte so bleiben können, aber nein.

Eines Tages beschloss man, das Fließ wieder anzustauen, unser schönes Haus lief voll mit Wasser. Wir haben das alles geduldig hingenommen, neu gebaut, diesmal wieder auf dem Wasser und heute sitzen wir auf dem Trockenen. Jetzt ist endgültig Schluss.“

Die Frau des Bibers hatte sich in Rage geredet und ihre Augen funkelten böse, während ihr Mann voller Kummer schweigend zuhörte.

„Ich hatte geglaubt, die Menschen hätten die Sache mit dem Wasser verstanden. In ihren Zeitungen schreiben sie, wir seien willkommen. Und dort, wo wir uns ansiedeln, vertreiben sie uns, machen uns das Leben  zur Hölle. Ich habe das satt, wir ziehen weg, endgültig und für alle Zeiten! Sie sollen uns nie wieder zu Gesicht bekommen, sie sollen uns für immer vergessen.“

Blitze schossen der Frau des Bibers aus den Augen, zumindest erschien es so. und unter der Wucht der Worte erzitterten die Erlen. Auch der Biber und  der Rabe wurden heftig  durchgeschüttelt, es schien jedenfalls so.

Die Frau des Bibers rief die drei Kinder zu sich, wies ihren Mann an, sich den wenigen Hausrat aufzuladen und so zogen sie auf der Stelle davon.

Der Rabe saß tief beeindruckt von diesem Gewitter noch lange auf der Erle über der verlassenen Biberburg. „Sie hat Recht“, dachte er.  

Es begann mittlerweile zu dämmern. Trotz des ganzen Kummers wollte der Rabe die Gute- Nacht-Geschichte nicht versäumen und er flog zu dem Apfelbaum hinüber. Blanca lag bereits im Bett und die Mutter setzte sich mit dem Buch in der Hand zu ihr. Sie schlug das Buch auf, blätterte die Seite mit der Beutelmeise um und starrte ungläubig auf die beiden nun folgenden leeren Seiten, die sie geöffnet hatte. Hier hatte gestern noch auf der linken Seite der Text über den Biber gestanden, auf der rechten Seite befand sich der gezeichnete Biber. Wieso? wo waren der Text und die Zeichnung? Sie blätterte die leere Seite um, dort folgte das Bleßhuhn.

„Was ist denn, “ drängte das Mädchen, „warum liest du nicht, Mama?“

„Der Biber ist nicht mehr da, Blanca“,  antwortete die Mutter, ihr versagte die Stimme. Und so nahm das nächste Unglück dieses Tages seinen Lauf. Blanca weinte  und konnte und konnte nicht einschlafen. Der Mond sah schon mit schmaler Sichel und einer kleinen spitzen Nase zum Fenster herein, auch der Rabe saß noch immer traurig im Apfelbaum. Er hatte den Abflug verpasst, was nun wirklich kein Wunder war. Zu später Stunde hatte Blanca ihrer Mutter das Versprechen abverlangt, am nächsten Tag mit ihr nach dem Biber zu suchen.

Und so standen sie auf der kleinen Brücke und sahen zu der verlassenen Biberburg hinüber. Auch Kay konnte es ganz deutlich erkennen: die Biberburg stand auf dem Trockenen.

Blancas Mutter wandte sich an Kay: „Wussten Sie, dass hier bei uns ein Biber wohnt?“

„Ich hatte es mir gedacht, der Damm hier vor der Brücke war ein sicheres Zeichen. Ich habe das so gedeutet.“

„Wir haben den Biber hier schon lange beobachtet, in der Dämmerung ist er manchmal durch den Weiher geschwommen. In unserem Garten hat er zwei Apfelbäume abgenagt. Der hintere Teil unseres Gartens stand häufig unter Wasser, wenn es mal länger regnete. Zuerst waren wir damit nicht glücklich. Seitdem wir den Biber beobachten und kennen, ist das alles nur noch halb so schlimm und wir haben in guter Nachbarschaft gelebt.“

„Wie haben die übrigen Nachbarn, ich meine die Nachbarn in Ihrer Straße die Sache gesehen?“ wollte Kay nun wissen.

„Wir sind wohl die Einzigen, die den Biber als Nachbarn so entspannt betrachten. Seit gestern ist alles anders, wir denken, der Biber ist endgültig weggezogen.“

Blancas Mutter erzählte dann, wie sie gestern Abend die Geschichte vom Biber vorlesen wollte und davon, dass der Biber aus dem Buch verschwunden war.

Der Rabe in der Erle über der kleinen Brücke seufzte laut und lange auf, so dass Kay, Blanca und ihre Mutter nach oben schauten. Kay kam es so vor, als hätte er dieses verständige Tier schon gesehen.

„Und wo ist der Biber jetzt und wie holen wir ihn wieder zurück?“ wollte Blanca wissen.

„Das ist ein langer Weg.“ Dachte Kay, sprach diesen Gedanken aber nicht aus.

Sie redeten auf der kleinen Brücke noch eine ganze Weile über den Biber und die übrigen Tiere, die man von hier aus beobachten konnte.

Die Sache mit dem verschwundenen Biber ließ Kay nicht los. Er suchte das Buch, aus dem Blancas Mutter jeden Abend vorgelesen hatte und wollte sich selbst überzeugen, was an der Geschichte dran war. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass aus einem Buch Texte und Bilder einfach so verschwinden. Er hatte seine Zweifel auf der kleinen Brücke nicht ausgesprochen. Andererseits, warum hätte Blancas Mutter eine so unglaubliche Geschichte erfinden sollen?

Da draußen im Briefkasten vor der Tür lag das Buch, er musste es nur hereinholen und sich überzeugen.

Kay gab sich einen Ruck, ging und nahm das Päckchen, das noch zur Hälfte aus dem Briefschlitz  heraushing, an sich. Es war das gesuchte Buch. Kay blätterte Seite für Seite, nach der Beutelmeise folgten zwei leere Seiten. Es war kein Zweifel möglich. Später, nach der Seite über die Ringelnatter folgte wieder eine leere Seite. Was mochte hier ursprünglich verzeichnet gewesen sein? Und was würde als Nächstes verschwinden?

*****

Ein Gewissen meldet sich

Der wolkenlose Himmel verkündete an diesem Vormittag mit seinem satten, klaren Blau den Beginn der hellen Jahreszeit. Die Kohlmeise sang, einer Luftpumpe gleich, lauter als an all diesen nun vergangenen Regentagen des Februars. Und die Sonne wischte das hartnäckige Reifgewand aus der letzten Nacht von altem Laub und blassem Gras. Der Kalender zeigte den ersten März an.

Der Mann trat in seiner gelben Jacke noch auf Strümpfen vor die Eingangstür und lauschte eine ganze Weile auf den Klang des Frühlings. Dann setzte er sich auf die Vortreppe und zog seine Turnschuhe zu sich heran. Die Schuhe hatten mittlerweile die Farbe alten Laubes angenommen und waren an den Fersen ziemlich heruntergetreten. Er löste die verknoteten  Schnürsenkel, zog die Schuhe langsam an und wirkte bei all dem unentschlossen. Er war auch unentschlossen.

Während er über seine heutige Aufgabe und darüber nachdachte, ob er sie doch lieber verschieben sollte, bemerkte er den Raben, der am Straßenrand gegenüber ein altes Laubblatt nach dem anderen mit dem Schnabel anhob, umdrehte und wieder ablegte. Bei dieser absolut systematischen Suche legte er ein trockenes, längliches Blatt frei, das wahrscheinlich im vergangenen Jahr an einer Vorgartenlilie gewachsen war. Der Rabe zog das Blatt aus dem übrigen Kram heraus, nahm es mit dem Schnabel auf und hüpfte scheinbar  prüfend einige Schritte die Straße entlang. Dann hielt er inne, sah zu dem Mann auf der Vortreppe hinüber, flog schließlich ohne Hast auf und verschwand hinter dem Haus gegenüber.

„Ja, du hast ja Recht“, brummte der Mann, „ hier wird nichts mehr verschoben, also vorwärts“.

Er holte seine Schubkarre aus dem Garten, legte den Spaten hinein und zog los, um eine Fuhre Pferdemist zu holen. Es hatte die letzten Tage nicht mehr geregnet und der Weg zum Reitplatz würde wahrscheinlich wieder passierbar sein. Und bei der Gelegenheit, wenn er nun schon diese Richtung einschlug, konnte er auf einen kurzen Plausch bei Gottfried vorbeischauen. Gottfried war, oberflächlich betrachtet, ein alter, ungepflegt wirkender Zausel, der als Einsiedler weit hinter den letzten Häusern in einem ebenfalls alten, geräumigen Pförtnergebäude lebte, von welchem aus vor längst vergessener Zeit die Zufahrt in ein weiträumiges Betriebsgelände beaufsichtigt worden war. Selbst die Fahrzeugwaage mit dem Wiegehäuschen gegenüber dem Pförtnergebäude trotzte noch immer den Wogen der neuen Zeit.

So kam Schwung in die Bewegungen des Mannes mit der Schubkarre. Er beschloss, erst den Pferdemist aufzuladen und dann die Schubkarre an der Weggabelung hinter dem Reitplatz abzustellen. Nach seinem Besuch bei Gottfried käme er dort sowieso wieder vorbei. Er hatte damit einen Plan.

Auf der Lagerfläche für den Pferdemist herrschte wie immer ein gewaltiges Durcheinander. Aller Unrat, halb verdorbenes Obst und Gemüse, Verpackungen und Berge von Heu und Stroh lagen bunt gemischt in kleinen und  großen Haufen von stinkenden Wasserlachen umsäumt auf einer einst idyllischen, kleinen Waldwiese. Der Mann versuchte, einen etwas älteren Haufen zu erreichen, rutschte mit einem Fuß in die Jauche, begann grob zu fluchen und bekam schlechte Laune.  Er wusste ganz genau, warum er diese Expedition schon seit Tagen immer wieder verschoben hatte. Einerseits. Andererseits hatten sich die Liedzeilen aus Kindertagen „im Märzen der Bauer die Rösslein anspannt …“ in seine Gedanken gedrängt  und nun war es plötzlich März geworden.

Endlich hatte der Mann die Schubkarre beladen und sich aus dem Morast herausgekämpft. Die Schuhe hatten mittlerweile die Farbe der Schubkarrenladung. Kein Wunder. Er stellte die Schubkarre an die Weggabelung und lief mit leichtem Schritt zu dem Pförtnerhaus. Er kam hier immer ohne vorherige Verabredung her und diese Ungewissheit, ob er Gottfried hier antreffen würde, machte dieses bange Gefühl, das er auch heute verspürte.  Es war ihm wichtig, diesen merkwürdigen Burschen zu treffen, zu sehen, dass es ihm gut ging .Schön war es, wenn die Tür offen stand und von drin gerufen wurde: „Komm rein, warst lange nicht hier.“

Heute war die Tür des Pförtnerhauses zu. Das war neu. Was stimmte hier nicht?

Der Mann läutete die kleine Schiffsglocke, die an einer Stütze des Vordaches hing. Nach einer geraumen Weile hörte er das bekannte „komm rein“ und trat in das Haus ein. Schlechte Luft, Feuchtigkeit und Halbdunkel empfingen ihn. Er sah sich um, konnte aber niemanden entdecken.

„Ach du bist`s, Kay, sei gegrüßt“,  Kay atmete auf.

Rechts vom Eingang, dort wo früher der Pförtner gesessen hatte, erhob sich ein kleiner, leicht gebeugt wirkender Mann und reichte Kay die Hand.

„Schön, dass du gekommen bist, warte, wir machen nur kurz einen Durchzug für etwas frische Luft.“

Kay staunte, dass Gottfried seinen Gesichtsausdruck sofort entschlüsselt hatte.

Während Gottfried alle Fenster öffnete, hatte Kay Gelegenheit, sich in dem Innenraum des Pförtnerhauses ein wenig gründlicher umzusehen. Bei seinen früheren Besuchen waren sie immer in den Garten neben dem Pförtnergebäude hinausgegangen. Gottfried hatte auf der kleinen Grünfläche mit Bänken, die früher in den Pausen von den Mitarbeitern für eine kurze Erholung genutzt wurden, einen Garten mit allerlei Obstgehölzen und Hochbeeten für Gemüse angelegt. Kay hatte sich immer für den Gehölzschnitt, die Veredelung und Bewurzelung von Obstgehölzen interessiert und Gottfried konnte alles erklären und zeigen, wie man es machen musste. Kay vermutete, Gottfried habe höchstwahrscheinlich als Gärtner gearbeitet. Das wurde dadurch verstärkt, dass in einigen ihrer wenigen Ausflüge in das Früher Gottfried meinte, er hätte eben da oben gearbeitet, wo früher die Tomatenfabrik stand. Dieses große Gewächshaus, das damals den Fortschritt im Gartenbau verkörperte, musste dann vor nunmehr fast zwanzig Jahren einem höheren Ziel weichen. An gleicher Stelle wurde ein mehrere Hektar großes Rechenzentrum errichtet, das seither in mehreren Abschnitten um weitere Hektar anwuchs. Wenn es mal nicht richtig wachsen wollte, kamen Minister, lobten Weitblick und Fortschrittsgeist der kommunalen Vertreter. Dann wuchs der riesige Komplex weiter. Die Bewohner gewöhnten sich an allmählich steigende Temperaturen, errichteten höhere Zäune oder sahen einfach nicht mehr hin. Nur das beständige Rauschen von hunderten Kühlaggregaten auf den Dächern war nicht zu überhören.

Kay hatte bei seinen Streifzügen durch den verbliebenen Rest Natur den Eremiten aus dem Pförtnerhaus getroffen. Es war damals Frühsommer, Gottfried hatte interessiert Kays Fahrrad betrachtet, ein Wort ergab das andere und sie hatten dann noch lange im Garten neben dem Pförtnergebäude gesessen und geredet.

Die Inneneinrichtung des Pförtnerhauses ging teilweise noch auf die ursprüngliche Nutzung zurück. Zwei Wandschränke mit einem Spültisch, ein Kühlschrank, ein Kleiderschrank, Regale mit Büchern und Allerlei, hinzugekommen war eine Schlafstelle und dann befand sich dort noch der Arbeitsplatz des Pförtners, der große Tisch und ein Drehsessel mit Armlehnen. Auf dem Tisch standen mitten vor dem Ausguck des Pförtners ein wirklich großer, halbrunder Bildschirm und ein Bedienungsterminal. Das Display war in mehrere Reihen und diese wiederum in mehrere Segmente, also einzelne Bildschirme unterteilt, auf denen die verschiedensten Inhalte dargestellt wurden. Dieser Anblick war absolut verwirrend, weil alles in Bewegung schien.

Gottfried hatte Kay einige Momente von der Seite betrachtet und sagte entschuldigend: „Das ist mein Doppelleben, hatte es lange ausgeblendet und nun ist es wieder da.“

„Musst du da jetzt irgendwas machen?“

„Nein, ich halte das einfach an.“

„Ich muss das, glaube ich, nicht verstehen“,  sagte Kay noch immer überrascht.

„Hast du ein wenig Zeit mitgebracht? Ich würde versuchen, etwas Licht in die ganze Sache zu bringen.“

Kay nickte und Gottfried verschwand daraufhin in einem Nebenraum und kam mit einem Stuhl zurück.

„Setz dich bitte“, sagte Gottfried mit leicht spöttischem Unterton, „dann kannst du mir nicht umfallen“. Etwas ernster fuhr er fort: „Ich hatte schon seit Monaten den Wunsch, mit dir über eine alte Sache zu reden, die uns beide betrifft und mich jetzt an einen Punkt geführt hat, der zu einer Entscheidung zwingt.“

Kay schüttelte leicht den Kopf: „Ich bin zu Allem bereit.“

„Gut, dann will ich Klartext reden, muss jedoch ein wenig weiter ausholen.“ Gottfried setzte sich etwas bequemer in seinen Sessel, streckte die Beine aus und fuhr fort:

„Ich bin kein Gärtner und habe in meinem ganzen Berufsleben nicht im Gartenbau gearbeitet. Mit der Gärtnerei hab ich erst hier angefangen, nachdem ich aus meinem Beruf ausgestiegen bin.“ Etwas schuldbewusst setzte er hinzu: „Bei dir war, das weiß ich genau, der Eindruck entstanden, ich hätte hier oben mal in der Gärtnerei gearbeitet, das war ein nicht ganz zufälliges Missverständnis und keinesfalls fair von mir. Und ich bitte hiermit um Entschuldigung.“

Gottfried sah Kay mit einem offenen Blick an. Kay nickte ihm kaum merklich zu. Dann fuhr Gottfried fort:

„Nach meinem Studium der Medizin habe ich fast 25 Jahre in einem Forschungsinstitut gearbeitet, das auf dem Gebiet der Hirnforschung führend war. Daneben hatte ich noch verschiedene Lehraufträge an Universitäten. Für mich gab es nur Arbeit, kaum Pausen und kein Privatleben.

Nach und nach kamen milliardenschwere Aufträge aus der Digitalwirtschaft. Diese Aufträge hatten genau das zum Gegenstand, was hier oben in diesem Gigaspeicher abläuft.“

Gottfried stand auf und kam mit einem Glas Wasser zurück, das er Kay in die Hand gab. „Du siehst so blass aus, trink mal etwas.“

Kay trank und Gottfried berichtete nun, wie die Forschergruppe, die er leitete, allmählich in die Strukturen des weltgrößten Digitalkonzerns überführt wurde. Zwei Jahre nach Beginn dieses Prozesses waren von seiner Forschergruppe noch sieben Wissenschaftler übrig, die vollkommen abgeschirmt arbeiteten.

„Ziel unserer Forschung war es“, Gottfried stockte, holte tief Luft und sprach dann weiter, „also Ziel war es, eine naturgetreue Simulation des menschlichen Gehirns, des gesamten Nervensystems, eines lebenden Menschen in seiner Interaktion mit der Gesellschaft zu erzeugen“.

Gottfried stand auf, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und setzte sich langsam zurück auf seinen Sessel.

„Nach jahrelanger, harter Arbeit brachten wir John zur Welt. John lebte, wir simulierten sämtliche Lebensbedingungen und Funktionen. John konnte denken wie alle, er sprach, er arbeitete, er lebte in seiner Wohnung, ging zum Sport und trank Bier mit seinen Kollegen. Eine Freundin  hatte er übrigens auch. Und wir haben mit ihm telefoniert und uns später mit ihm ganz zufällig getroffen. Natürlich alles simuliert. Ich habe tatsächlich persönlich mit John gesprochen. Es war einfach atemberaubend und wir konnten nicht mehr aufhören. Wir hatten ein Rechenzentrum zur Verfügung mit einer vergleichbaren Leistung wie dieses hier oben.“

Gottfried machte wieder eine Pause und setzte noch hinzu: „Natürlich haben die Medizin, die Biochemie und die Psychologie das menschliche Denken schon weitgehend entschlüsselt, das hat bisher aber nur zu einer Annäherung an das Ziel geführt. Wir hingegen hatten das Ziel erreicht und konnten mit dem Ergebnis unbeobachtet experimentieren. Unsere Herrschaft über John bestand, banal gesagt, nur noch darin, den Stecker zu ziehen. Und eines Tages kam die Order, das Experiment abzubrechen. Zur Erklärung hieß es, die Menschheit müsse erst auf eine solche Erfindung vorbereitet werden. Dieser Auftrag kam dann auch recht bald.“

Kay hatte sich während der letzten Worte erhoben, leicht schwankend dagestanden und sagte schließlich: „Deine Beichte nimmt mir die Luft, lass uns mal rausgehen.“

Gottfried stand auch auf, nahm sich eine Jacke vom Haken und beide traten vor die Tür. Die Eingangsseite lag noch im Schatten und sie beschlossen, in den Garten zu gehen. Dort setzten  sie sich auf eine der noch aus der alten Zeit zurückgebliebenen Bänke. Die Sonne wärmte schon und so saßen sie eine ganze Weile schweigend. Gottfried betrachtete Kay eine Weile von der Seite. Sein Gesicht hatte hier draußen wieder Farbe bekommen. Nach kurzem Zögern setzte Gottfried seine Beichte fort:

„Die Anweisung, John zu töten, wirkte auf mich wie ein Weckruf. Und da war noch der neue Auftrag. Ich habe mich später immer wieder gefragt, warum ich nicht sofort ausgestiegen bin. Es lässt sich nur dadurch erklären, dass wir alle wie in Gefangenschaft lebten und nicht fähig waren, eine solche Entscheidung umzusetzen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.

„Worum ging es bei dem neuen Auftrag? Ich hatte bei meinen Forschungen das Zentrum und die Voraussetzungen zur Bildung und Entwicklung des Freiheitswillens im Gehirn vollständig entschlüsselt. Es war ein hochkomplizierter Prozess. Ich war damals auch verpflichtet, meinen Auftraggebern gegenüber alle Ergebnisse meiner Arbeit offen zu legen. Dort bestand damals schon lange das Konzept, das menschliche Wissen möglichst vollständig auf ihren Plattformen zu konzentrieren, um dann irgendwann den Zugang nach ihren Vorstellungen auch zu beschränken. Und nun sollte in einem ersten Schritt durch Auswertung der nutzerbezogenen Daten die Herausgabe von Informationen so beschränkt  werden, dass alle die Daten herausgefiltert werden, die für Entstehung und Entwicklung des Freiheitswillens maßgeblich sind. Das funktioniert so ähnlich, wie früher durch Auswertung nutzerbezogener Daten Werbung zugeordnet wurde. Ich habe das jetzt sehr vereinfacht dargestellt. Und da heute ungefähr  90 % der Menschheit das Internet nutzt, wird das gewollte Ergebnis irgendwann erreicht werden.“

„Das ist ja unglaublich“, protestierte Kay, „mich bekommst du damit nicht, ich habe das Internet schon vor Jahren abgeschaltet!“

„Damit liegst du auch nicht falsch, andererseits hast du deinen Freiheitswillen gut entwickeln können, weil du eine umfassende Bildung erhalten hast. Und genau um diesen Zusammenhang geht es in der Zukunft. Diese Gigaspeicher haben im Grunde zwei Abteilungen, eine für das Wissen und die andere zunehmend zur Verwaltung der Freiheit. Das ist die Kurzformel. Wenn du möchtest, würde ich dir das später mal etwas genauer darstellen.“

Kay brummte etwas unbestimmt vor sich hin und Gottfried wertete es als Zustimmung.

„Auf jeden Fall war ich mal hier oben in dem Speicher, natürlich nicht persönlich, und habe die letzten Einstellungen vorgenommen. Das war zu der Zeit, als mir langsam dämmerte, was wir da machten. Und dann bin ich eines Tages ausgestiegen, habe meine persönlichen Sachen in einen kleinen Koffer gepackt und bin abgetaucht. Ich war nur unterwegs, wie besinnungslos und immer stärker wurde der Druck meines Gewissens. Ich fing an zu trinken, kam dann irgendwann wieder zur Besinnung und habe mich schließlich hier niedergelassen. Das ist alles.“

Kay stand auf, hockte sich nach einer Weile vor Gottfried auf die Erde und sagte leise: „Wenn ich dich nicht kennen würde, hätte ich dir gesagt, bleib mir vom Halse mit deinem Verschwörungskram. Verschwörung oder nicht Verschwörung, ich bin da raus, habe meine Entscheidungen getroffen, pflanze Bäume und baue Gemüse an.“

Gottfried schmunzelte: „Erstens, wie du gerade erfahren musstest, kennst du mich eher  weniger und zweitens funktionieren Verschwörungsgeschichten genau so.“

Gottfried reichte Kay seine Hand und zog ihn aus der Hocke hoch.

„Was hat dir denn nun dein Gewissen geraten?“

„Es war ein jahrelanger Kampf, ich habe nun entschieden, meine Arbeit rückgängig zu machen. Frage mich jetzt bitte nicht …“

Kay fragte nicht.

„Weißt du eigentlich, wie es kam, dass ich hier eingezogen bin?“ Und ohne lange auf eine Antwort zu warten, fuhr Gottfried fort: „Auf meinen Irrfahrten, die mich häufig in die Nähe solcher Speicheranlagen führten, kam ich hier vorbei. Ich war damals bereits als Wanderer unterwegs. Und hier auf dem Vordach saß damals ein Rabe, der schaute voller Sympathie zu mir herunter. Ich habe das als Einladung ausgelegt und bin hier geblieben. Der Rabe übrigens sieht manchmal bei mir vorbei.“

„Den kenne ich auch“, erwiderte Kay und wunderte sich über seine eigenen Worte.

Nachdem sie einige Momente am Eingang des Pförtnergebäudes gestanden hatten, begann Gottfried: „Ich muss an meine Arbeit zurück, komm bitte in zwei Wochen zu mir, bis dahin sollte alles erledigt sein. Dann ist Zeit.“

Sie verabschiedeten sich, Gottfried zog Kay zu sich heran und legte den Arm um seine Schulter. „Es könnte sich einiges ändern, achte auf den Raben.“

Kay ging zu seiner Schubkarre zurück und es begannen zwei Wochen voller Ungeduld, Zweifel und Ungewissheit.

Nach genau zwei Wochen ging Kay wie verabredet zu Gottfried, diesmal ohne Schubkarre. Und anfangs traute er seinen Augen nicht. Es gab kein Pförtnergebäude mehr, das Wiegehäuschen und auch die Waage fehlten. Kein Garten, keine Bänke, nur eine alte Betonfläche war zu sehen, die in eine Brache überging. Weiter nichts. Und leise war es geworden. Das Rauschen war verstummt.

Kay stand lange fassungslos auf diesem kahlen Platz, das aufsteigende Gefühl von unendlicher Traurigkeit schnürte ihm die Kehle zu.

18. März 2024

*****

Ja, hättet ihr mal!

Der Rabe saß auf der Einfassung eines alten Ziehbrunnens inmitten einer schon seit vielen Jahren verlassenen Gärtnerei. Er betrachtete von dort aus den Walnussbaum neben dem halb eingefallenen Wohngebäude. Der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen und der Rabe versuchte abzuschätzen, wann die prallen Schalen der Walnüsse aufreißen und die Nüsse herausfallen würden. Schon begannen die Blätter in der Sonne des Spätsommers zu welken und die Zweige neigten sich unter der Last der Früchte.

Es war Eile geboten. Der Rabe hatte schon vor Tagen den großen Bagger bemerkt, der von einem Tieflader auf das Gelände gebracht wurde. Er wusste Bescheid. Schon oft waren mit solchem Gerät ganze Bäume aus der Erde gerissen worden, um Platz zu schaffen. Kürzlich hatte ein Bagger in der Nähe einige Gärten aufgeräumt, die Apfelbäume gepackt, hochgehoben und samt Blättern, Äpfeln und Nistkasten in einen Container geworfen. Der Rabe machte sich nichts aus Äpfeln, Nüsse dagegen waren Leckereien. Aus seiner Sicht.

Der Rabe kannte die Gärtnerei schon lange. Früher hockte er gerne auf dem Rand der Brunneneinfassung und bewunderte sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Das glänzende Gefieder, der untadelige Schnabel und überhaupt die ganze stolze Erscheinung. Im Laufe der Zeit entfernte der Spiegel sich immer weiter, bis er ganz verschwand. Auch die Eitelkeit des Raben verlor sich zunehmend und so fügte sich alles.

Neben der Sorge um die reifenden Walnüsse und der Beunruhigung, die von dem Bagger ausging, hatte noch etwas anderes die Aufmerksamkeit des Raben geweckt. Er hatte hier, wo weit und breit niemand zu sehen war, das Gefühl, er wäre nicht allein. Wenn er zu diesem Brunnen flog, hier, wo eine angenehme Stille herrschte, schien es ihm, als hörte er Stimmen. War es die Stille, die solche Illusionen erzeugte? Oder gab es tatsächlich Bewohner?

Es war kein Zweifel möglich. Er hörte ganz in seiner Nähe Stimmen. Der Rabe drehte sich, so dass er sich über die Brunneneinfassung ein wenig in den Brunnenschacht hinein beugen konnte. Ja, die Stimmen kamen aus der Tiefe des dunklen Brunnenschachtes.

„Immer dieses tägliche Einerlei. Ist es Tag, ist es Nacht? Ich weiß es nicht und diese Langeweile. Nichts passiert. Nichts ist zu tun.“

„Du musst dich noch gedulden, das wird nicht immer so bleiben.“

„Kein Zweifel“, dachte der Rabe, „das sind Brunnenfrösche“.

„Ich habe es lange satt! Das erzählst du mir jeden Tag. Und das schon seit Jahren. Nichts hat sich geändert.“

Nach längerem Schweigen erwiderte der andere Brunnenfrosch:

„Ich erinnere mich gern daran, wie es früher war, das hilft mir.“

„Ja, früher, da haben wir oft auf dem Brunnenrand gesessen und in die Welt geschaut.“

„Genau, du hast auf die Prinzessin gewartet, die mit der goldenen Kugel. Wie oft hast du davon geredet, du wärest  ein verwunschener Prinz. Ich glaube das einfach nicht.“

„Ich bin ein Prinz! Kapier das doch endlich.“

„Aber es ist doch keine Prinzessin gekommen mit einer goldenen Kugel.  Es kamen nur Leute, die einen alten Grill in den Brunnen geworfen haben. Und später noch eine Schubkarre und eine alte Waschmaschine. Und in diesem rostigen Gerümpel wohnen  wir heute“.

„Die Prinzessin wird mich eines Tages erlösen und du musst alleine sehen, wie du klarkommst.“

„Nun sei mal nicht so krötig. Überleg doch mal, wie soll sie dich hier unten finden. Und wenn die goldene Kugel wirklich in den Brunnen fällt, wie willst du sie denn nach oben bringen, hier, wo es kein Wasser mehr gibt? Du müsstest doch mit der goldenen Kugel nach oben schwimmen und sie über den Brunnenrand werfen. Und außerdem: Das Schloss ist doch schon lange eingefallen, da wohnt keiner mehr. Auch keine Prinzessin.“

„Wie gerne würde ich wieder in den Spiegel schauen, vom Brunnenrand. Früher habe ich auch manchmal den Raben beobachtet, wie er in den Spiegel geschaut hat, wie der sich dabei aufgeplustert hat. Er hat mich nicht bemerkt, ich habe immer von unten durch den Spiegel geschaut.“

„Schau mich doch einfach an, ich bin jetzt dein Spiegel.“

„Dass ich nicht lache, du müsstest dich einmal sehen, so möchte ich wirklich nicht aussehen.“

„Du siehst auch nicht besser aus.“

„Ja, ja, wir haben uns wahrscheinlich nicht zu unserem Vorteil verändert. Es fehlt das tägliche Schönheitsbad und die Ernährungsumstellung tut das Übrige. Keine Mücke mehr, keine Fliege. Nur noch Käfer, Spinnen und diese Nacktschnecken. Nie hätte ich geglaubt, davon eines Tages leben zu können.“

„Der Frosch gewöhnt sich an alles, hat schon meine Oma gesagt. Ach, meine Oma.“

Es trat Schweigen ein. Nach einer ganzen Weile sprach der Brunnenfrosch, der eigentlich ein Prinz war, weiter:

„Kannst du dich noch erinnern, wie eines Tages der rosa Frosch hier vorbei kam, der uns eine Leiter aufschwatzen wollte? Das war kurz nachdem die Menschen das Schloss verlassen hatten und die Prinzessin auch fortging.“

„Na, den haben wir tüchtig ausgelacht. Eine Leiter für Frösche! Das sind diese Geschichten, die sich Menschen ausgedacht haben. Gibt es schönes Wetter, steigt der Frosch die Leiter hoch. Und wenn es regnen soll, sitzt er unten. Ist genau der gleiche Quatsch wie der Frosch, der ein verzauberter Prinz ist.“

„Ich bin ein Prinz! Daran glaube ich fest. Und manchmal habe ich schon gedacht, wir hätten damals die Leiter nehmen sollen. Dann müssten wir heute nicht hier unten sitzen:

Es trat wieder Schweigen ein. Und der Rabe dachte „Ja, hättet ihr mal!“

Tiefe Trauer erfasste ihn bei seinen Überlegungen, wie es nun weitergehen würde.

Dann erschrak der Rabe, weil plötzlich die Turbine des Baggers aufheulte. Er wollte losfliegen, aber seine Flügel versagten ihm den Dienst.

*****

Ein Ausflug nach Stralsund

Auf dem abgelegenen Bereich eines Parkplatzes versuchte eine Elster mit großer Ausdauer, eine erbeutete Nuss zu öffnen.  Sie flog immer wieder einige Meter in die Höhe und lies die Nuss fallen. Die Nuss gab noch nicht auf.

Das Geschehen hatte mehrere Beobachter, den Mann mit dem Fahrrad, der gerade die Einkäufe auf dem Gepäckständer befestigt hatte und den Raben, der interessiert vom Dach einer Laterne zusah.  Um besser sehen zu können, näherte sich der Mann mit seinem Fahrrad vorsichtig  und dabei fiel sein Blick auf den Raben. Den hatte er schon gesehen, zumindest kam es ihm so vor. Das Dach der Laterne und der Rabe, der sich so nach unten beugte, so konzentriert wirkte. Quatsch, dachte er, diese Tiere sehen doch alle gleich aus.

Der Rabe löste sich von seinem Platz,  schwebte nach unten und landete förmlich auf der Nuss.  Die Elster hatte scheinbar nicht mit dem Angriff von der Seite gerechnet, landete ebenfalls und meckerte aus einiger Entfernung. Den Raben störte das wiederum nicht. Unter  zwei Hieben seines Schnabels gab die Nussschale nach und er zerlegte die beiden Hälften.

Der Mann hatte fasziniert zugesehen und nicht bemerkt, dass er mit seinem Fahrrad scheinbar einem Autofahrer im Weg stand.

Es hupte durchdringend, der Rabe und die Elster flogen auf, die Reste der Nuss blieben liegen. Und der  Mann hatte  auch einen gehörigen  Schreck bekommen. „Mensch, Alter, schlaf nicht ein auf der Straße“.  Wieso kann der Idiot nicht dort langfahren, wo Platz ist, dachte der Mann mit dem Fahrrad und drehte sich langsam um. Na klar, so ein Typ mit viel zu großem Auto! Er starrte auf die Frontscheibe.

„Mensch, Alter“, erklang nochmals die Stimme des Autofahrers, der Typ beugte sich aus dem Fenster, “Kollege, das ist ja eine Sache, wie lange haben wir uns nicht gesehen?“ Und nun erkannte auch der Mann mit dem Fahrrad seinen Kollegen Wolfgang. Dieser hatte offenbar nicht gleich seinen Vornamen auf die Zunge bekommen?

„Ja, ist schon mehr als 30 Jahre zurück“. Am Ende einer gewaltigen Erosion des Gemeinwesens  wurden sie gemeinsam mit vielen anderen Kollegen scheinbar wie auf Knopfdruck ohne jegliche Rücksichtnahme auf die Straße geschüttet. Dieser wuchtige Schlussakkord hatte das Aluminium- Zeitalter am Vorabend des Tages beendet,  an dem das Zeitalter des ewigen Konsumglücks beginnen sollte.

Nachdem sie die wichtigsten Ereignisse der vergangenen 30 Jahre im Schnelldurchlauf besprochen hatten, lud Wolfgang  seinen Kollegen  zu einem Ausflug nach Stralsund ein, er wolle in der nächsten Woche mal das Meeresmuseum besuchen.

 „Und sag noch mal bitte, deinen Vornamen, irgendwie komme ich nicht drauf“.

 “Kay, eigentlich Kay Uwe“.

„Ja, ja, ich werde schon langsam vergesslich“.

Sie verabredeten sich  für Donnerstag  8.00 Uhr.

Vor der Abfahrt  bat Kay, doch die 96 zu nehmen wegen der schönen Landschaft. „Nee nee“, wehrte Wolfgang ab, „da kommen wir nicht vorwärts, wir nehmen die A20.“ „Aber“, versuchte Kay erneut, „wir haben es doch nicht eilig und…“. „Nein ist doch Quatsch, das Auto muss mal richtig ausgefahren werden.“ Kay  zögerte noch mit dem Einsteigen. „Los,  komm, ab geht er“.

Zuerst fuhren sie auf der A11, überholten Ketten von LKWs, dann eine Baustelle, runter auf 60, danach wieder  weiter mit 160, dann das Ende eines Staus.

So richtig kam keine Unterhaltung zustande, Wolfgang  hatte permanent das Verhalten anderer Autofahrer zu kommentieren. Hektisches Bremsen, „oh, dieser Pole, der kann doch bei uns nicht machen was er will. Überhaupt diese Polen,  verstopfen hier unsere Straßen. Und diese Litauer auch, die haben hier nichts verloren“.

 Sie jagten an der nächsten Kette polnischer LKWs vorbei und Kays Magen zeigte an, dass er seinen Inhalt dringend loswerden wollte. Er wusste jetzt wieder, warum er beim Einsteigen gezögert hatte. Gott sei Dank wieder ein Stau, der Magen konnte sich etwas beruhigen.

Irgendwann verließen sie die A 11 und fuhren auf der A 20 mit konstant 170 auf einer fast leeren Fahrbahn weiter durch endlose blühende Rapsfelder. „Ein herrlicher Anblick“, meinte Wolfgang schwärmerisch.  „Im Tank haben möchte ich den Bio-Sprit aber nicht.“ Kay fragte zurück, „wie willst du das verhindern?“ „Ich tanke nur in Polen, die mischen da kein Rapsöl rein und außerdem spare ich je Liter 25ct.“

Kays Blick verweilte nachdenklich auf der Frontscheibe. Er musste daran denken, wie die Frontscheibe des Wartburgs aussah, wenn sie früher von Berlin nach Stralsund fuhren. Damals  tuckerten sie mit 80 auf der 96 entlang, sie hatten des Öfteren dienstlich in der Werft in Stralsund zu tun. Der Wartburg kannte nur Stadtverkehr und wollte auch außerhalb der Stadt kaum schneller fahren. Schon beim Losfahren hatte der Fahrer damals immer herumgepoltert, dass er auf der halben Strecke mal kurz Rast machen müsse, um die Frontscheibe zu reinigen, denn die während der Fahrt beim Aufprall zerplatzten Insekten versperrten den Blick auf die Straße. Beim Zwischenstopp nahm der Fahrer den Wasserkanister aus dem Kofferraum und sein Putzzeug, ein altes Stück Feinrippunterhemd,  und wischte sorgfältig die Frontscheibe. Dennoch blieben auf der Scheibe immer einige Mahnmale zurück.

Kay fragte  seinen Kollegen, wie sich das heute mit den Insekten und den Frontscheiben verhält. „Keine Ahnung“, sagte er, „aber wahrscheinlich hat das etwas mit der aerodynamischen Bauweise der modernen Fahrzeuge zu tun. Ist eben keine Schrankwand, die auf der Straße fährt.“

Das Gespräch kam dann ganz automatisch auf  das Thema Windkraft. Rechts und links der Autobahn tauchten viele Windräder  auf, die sich munter drehten. Kay war mit seinen Gedanken noch bei den Insekten und Frontscheiben, als er den Kollegen sagen hörte: „Diese Windräder bieten echt keinen schönen Anblick, die ganze Natur wird dadurch verschandelt“. Wolfgang  sprach weiter über die Gefahren, die diese Windräder für die Natur darstellen. Es sei schon beobachtet worden, dass Vögel durch ein Rotorblatt getroffen und getötet wurden und Kay müsse sich mal vorstellen, dass sich  so ein Rotorblatt an seinem äußersten Ende mit einer Geschwindigkeit von 260 km/h bewege. Er redete und redete. „Ja“, sagte Kay, „schlimm diese Vögel und diese Insekten.“ Und in diesem Moment spürte Kay, wie sich Widerstand in ihm regte.

Nachdem der Kollege bei Tempo 170 seine Ausführungen über die Folgen der Windkraft zu Ende gebracht hatte, entschloss Kay sich zu einer Gegenrede. „Weißt du, ich will dir, wahrem Naturfreund, mal Folgendes erzählen: Im vorigen Jahr  hatte sich in unserem kleinen Garten unter dem Fahrradschuppen eine Igelmutter einquartiert und ihre Jungen dort zur Welt gebracht. Im August gingen die Igelkinder in unserem Garten spazieren und kehrten immer am Abend in das Nest zurück. Wir waren echt stolz darauf, dass die Igelmutter sich unseren Garten ausgesucht hatte. Im September wurden die vier Igelkinder dann selbstständiger und ich blickte mit Sorge auf ihre größeren Ausflüge. Ende September verließ ein Igelkind nach dem anderen unseren Garten und zog hinaus in die weite Welt. Als alle fort waren, machte ich mir Sorgen über das Schicksal der kleinen Igel. Mitte Oktober wurden meine Sorgen zur Gewissheit. Auf meinem Weg  zur Straßenbahn sah ich in der 30er S-Kurve am rechten Straßenrand einen kleinen toten Igel liegen. Zwei Tage später lag  noch ein kleiner Igel tot vor der Einfahrt  in die Bushaltestelle. Ich habe die beiden Igelkinder in unserem Garten zurückgebracht und unter dem Apfelbaum begraben.“

Wolfgang schwieg eine ganze Weile. „Ja, das ist nicht schön, das kann man nicht verhindern, aber woher willst du wissen, dass das die Igel aus deinem Garten waren?“ Darauf konnte Kay nichts erwidern, die ganze Trauer und der Frust waren in ihm wieder erwacht.

Kay war ganz elend zumute und wollte nur noch dieses Auto verlassen,  nur noch aus diesem Auto aussteigen.

In Stralsund angekommen, verabschiedete er sich von seinem Kollegen und fuhr mit dem Zug nach Berlin zurück. Den Besuch des Meeresmuseums mit Wolfgang hatte er  gestrichen.

Die Nachmittagssonne verbreitete noch diese sanfte, angenehme frühlingshafte  Wärme, als Kay in die kleine Straße einbog. Vor dem Hauseingang bemerkte Kay die auf der Straße liegenden Nussschalen. Und sein Blick wanderte automatisch hinauf zu der Straßenlaterne.  Es war niemand zu sehen. Nur zu hören war, wie ein Vogel scheinbar verlegen von einem Fuß auf den anderen trat.  „Da hast du mich letzte Woche ganz schön verladen mit deinen Kunststücken.“ Und etwas versöhnlicher fügte er hinzu: “Deine Schalen räumst du bitte das nächste Mal von der Straße.“

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Jessica hat geschrieben

Heute Morgen, nachdem es hell geworden war, lief ich zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen. Draußen ging ein stürmischer Wind, ein feiner, dichter Regen erfüllte die Luft, es war sehr ungemütlich. Mit den Zeitungen in der Hand zog ich den Abtreter, den der Wind weggeschoben hatte, wieder an seine Position vor die Tür zurück. Dabei kam unter dem Abtreter ein Umschlag zum Vorschein. Ich zog ihn ganz hervor, drehte ihn hin und her, aber weder eine Anschrift noch ein Absender waren darauf. „Was soll bitte das“, dachte ich, „wozu ist der Briefkasten da. Und kein Absender, komisch“.

Ich sah mich um nach allen Seiten, vielleicht war der Bote noch in der Nähe. Weder Mensch, noch Hund oder Katze waren auf der Straße zu sehen bei so scheußlichem Wetter. Trotzdem entstand  bei mir der Eindruck, ich werde beobachtet. Hinter irgendeinem Fenster sieht mir Jemand zu, beobachtet, ob ich den Umschlag finde und aufhebe. Das würde einen Sinn ergeben, aber warum hat sie oder er den Umschlag nicht besser in den Briefkasten geworfen? Zumal bei diesem Wetter?

Ich sah mich nochmals um, aber ich konnte nichts entdecken, was als Erklärung dienen könnte.

Nur auf dem Giebel gegenüber, dort wo in letzter Zeit häufig ein Baumfalke die Umgebung beobachtet hatte, hockte heute ein Kolkrabe. Nichts Besonderes. Er sah zu mir herunter, sein Schnabel wippte mehrmals auf und ab, als würde er mir zunicken. Dann breitete er seine Flügel aus und schwebte ohne Hast davon.

Drinnen im Trockenen nahm ich mir den Umschlag vor. Es war so ein hellgrauer Umschlag von früher, offen. Ich zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Das Blatt war einfach nur leer auf beiden Seiten. Mit dem Blatt Papier in der Hand kam ich nach längeren Überlegungen zu dem Schluss, hier hat jemand einen Spaß gemacht, ich werde mich jedoch nicht darüber ärgern.

In die noch nicht ganz abgeschlossenen Überlegungen hinein klingelte das Telefon. Nach mehreren „Hallo“ legte ich ärgerlich auf, weil sich am anderen Ende der Leitung niemand meldete. „Alles klar“, dachte ich, „das passt gut zusammen, vergiss es einfach. Ab in die Tonne mit dem Brief, der gar keiner ist.“

Ich nahm das Blatt Papier vom Tisch, warf einen letzten Blick darauf und erstarrte. Das Blatt, das bis eben noch leer war – zumindest hatte ich das angenommen, war eng beschrieben. Wo ist die Brille? Mit zitternden Händen setzte ich sie auf und las:

„Lieber Paul,

ja, ich weiß, ich hatte Dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“

„Hm, ein Brief an Paul, nicht an mich. Gut, ich werde den Brief zurück in den Umschlag legen und Paul geben … Doch halt, wer ist der Absender. Und überhaupt, wieso war das Blatt vorhin leer und jetzt ist es ein Brief? Und was sollte der Brief unter dem Abtreter? Der war auch völlig trocken, trotz des Regens. Und wieso saß gerade heute der Rabe da oben auf dem Giebel?

Schweißperlen traten auf meine Stirn. Gleichzeitig zog eine unbekannte Kraft meinen Körper nach hinten. Das war zu viel auf einmal.

Ich erwischte mit dem Pops gerade noch die Sitzfläche eines Küchenstuhls. Dann wischte ich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

„Jetzt ganz langsam, eins nach dem anderen. Als erstes ein Handyfoto von dem Brief, wer weiß, wie lange der Text auf dem Papier bleibt. Dann den Brief wieder eintüten und Paul anrufen.“ Ich trenne mein Handy vom Ladekabel, will es einschalten, aber es lässt sich nicht entsperren. Mir fällt auf, ich habe eiskalte, feuchte Finger. Das kenne ich, immer dann geht die Touch-ID nicht. Wie war nur das blöde Passwort? Irgendwann bekomme ich das Telefon eingeschaltet. Auf dem Bildschirm wird der Brief sichtbar und ich löse aus. Dann sehe ich mir das Foto auf dem Telefon an. Der Text ist gut zu lesen;  nur, je länger ich hinsehe, umso blasser wird er. Irgend so ein neuer Effekt, denke ich noch. Dann wird mit schärfer werdenden Konturen das Gesicht einer Frau erkennbar. Die Frau kenne ich, zumindest kommt es mir so vor. Claudia, sie singt im Chor, ist die Mutter von Jessica. Oder ist es doch nicht Claudia, sieht ihr nur sehr ähnlich? Aber wie kommt diese Frau in mein Telefon?

Sie lächelt, sieht mich an. Dann bewegt sie die Lippen ein wenig und beginnt zu sprechen:

„Lieber Paul,

ja, ich weiß, ich hatte dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“

„Nein“, rufe ich laut, das ist ein Missverständnis, ich bin nicht Paul.“

Die Frau runzelt die Stirn etwas und unterbricht mich: „Ich spreche gerade zu Paul, Sie können da meinetwegen zuhören, aber lassen Sie mich einfach sprechen.“ Mir stand der Mund offen, wagte nicht, noch etwas einzuwenden. Also doch nicht Claudia, aber absolut ähnlich, die Augen, der Mund. Nur das Haar, wirkt sehr natürlich, ist schon ganz schön grau. Claudia färbt sich ihre Haare , Kastanie, trägt sie auch viel kürzer.

Die Frau lächelt wieder und spricht weiter:

„Ich wollte dir erzählen, was hier in der letzten Zeit so los war. Eigentlich nichts Besonderes.

Neulich hat sich Timm mal wieder gemeldet, der von der JG. Die Woche wäre wieder Scooter-Dance in Ahrensfelde, er würde  mit Katharina hingehen, sie war auch bei der JG und sie sind heute immer noch zusammen. Wir könnten ein wenig schnattern und Spaß haben. Ich war noch nie zum Scooter-Dance. Was soll ich da alleine.

Naja, ich habe zugesagt und bin gestern mit hingefahren. Da sind bestimmt 300 Leute zusammengekommen, wegen der großen Beteiligung und des guten Wetters fand die Party auf dem Rathausplatz statt. Wenn ich mir das so recht überlege, es ist Mitte Februar und die Lebensabendgenießenden kurzärmelig und mit kurzen Hosen, völlig schräg. Die meisten waren auf ihren Scootern angereist, deswegen heißt die Veranstaltung wohl auch Scooter-Dance. Früher hieß das Seniorennachmittag oder so ähnlich. Hat mich wirklich nicht interessiert.

Du wirst es nicht glauben, aber ich habe Timm und Katharina nicht wiedererkannt. Hatte sie auch viele Jahre nicht gesehen. Gott sei Dank hat Timm mich gefunden. Wir saßen dann an einer der langen Tafeln und haben schön erzählt. Natürlich ging es am meisten um die ganz alten Geschichten.

Schön wäre es gewesen, du hättest mit dabei sein können. Ich weiß, ich hätte dir das vorher schreiben müssen, tut mir leid.

Timm hat erzählt, wie ihr als Kinder auf dem Feuerwehrteich Schlittschuhe gelaufen seid. Die Feuerwehr hatte einen Grill aufgestellt, es gab Bratwurst und für die Erwachsenen Glühwein, Musik gab es auch und es war schweinekalt. Nach dem Eishockeyspiel der Feuerwehrleute sind wir mit unseren Schlittschuhen über das Eis geschossen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich damals auch dabei war, nur kannten wir uns noch nicht.  Ich denke, es war im Februar 2011 und es war auch das letzte Mal, dass wir auf dem Feuerwehrteich Schlittschuh gelaufen sind. Mir war das damals überhaupt nicht klar, dass es das letzte Mal war, es überhaupt ein letztes Mal geben könnte.

Bis heute hat sich da eine Menge verändert. Der Feuerwehrteich ist schon vielen Jahren ausgetrocknet, dann sind die Pappeln eine nach der anderen eingeknickt und heute steht auf der Stelle ein Mobility-Hub mit Landeplatz für Lastendrohnen. Nicht schön.

Bei den alten Geschichten wurde mir immer schwerer ums Herz, irgendwann musste ich aufstehen und gehen. Ich möchte da auch nicht wieder hin. Am liebsten würde ich auswandern, irgendwohin, wo es so ist, wie früher.“

Der Frau rannen Tränen über die Wangen. Mir war auch nach Heulen.

Nach und nach verschwamm das Bild, ich hörte sie noch leise sagen: „Paul, lass uns mal reden, ich würde gern zu dir kommen in deinen hohen Norden. Ich umarme dich. Jessi“

„Batterie fast leer“ konnte ich gerade noch erkennen, dann war der Bildschirm schwarz.

Lange saß ich in der Küche, das Telefon noch immer in der Hand. Auf dem Tisch lagen  der graue Umschlag, das leere Blatt und die Zeitungen vom 12. Februar.

„Strom“, dachte ich, „das Foto von dem Brief“. Als mein Telefon wieder atmete, suchte ich nach dem Foto, es gab kein Foto von heute. Was soll ich Paul sagen?

Ich versank wieder in Gedanken. Nach und nach wurde einiges klarer, Jessica hat an Paul geschrieben. Das ist doch logisch. Dann war sie auch die Frau in meinem Telefon?  Wobei, ich kenne doch Jessica, sie hat im letzten Jahr oft mit Paul an diesem Küchentisch gesessen, waren fast noch Kinder. Gar nichts ist klar.

So verging die Zeit und der Abend zog herauf.

 Es war Mitte Februar,  nicht richtig kalt und noch nicht warm.

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Ein kleines Blumenbeet

Die Dämmerung hatte aus der kurzen Nacht einen kühlen, klaren Morgen gezaubert.  Spatzen tobten in den Dachrinnen, Rotschwänze versorgten bereits die hungrigen Kinder und der Kuckuck war wie jeden Morgen aus der Ferne zu hören.

Bevor die ersten Bewohner der Straße aus ihren Häusern traten, flog noch ein Rabe herbei und hockte sich auf den Giebel eines der kleinen Häuser. Er konnte von dort sowohl die Straßenseite als auch die Gärten hinter den Häusern überblicken. Man sah dem Giebelstein an, dass dieser Platz bei kleineren und auch großen Vögeln sehr beliebt war.

Den ganzen April hindurch hatte hier hoch oben ein Amselmann jeden Abend bis zum Dunkelwerden seine wunderschönen  Liebeslieder gesungen. Anfang Mai musste der Amselmann den Platz jedoch dem  Graureiher überlassen. Dieser war, wie sich herausstellte, ein Liebhaber der Chorkonzerte vom Froschteich hinter dem Haus. Der Reiher stand fortan bis lange nach der Dämmerung auf dem Giebelstein und lauschte andächtig den eher eintönigen Gesängen der Frösche. Musik ist ja bekanntlich Geschmackssache, auch für den Graureiher. Wenn die Bewohner der Straße ins Bett gegangen waren, schwebte der Reiher langsam zum Froschteich hinunter, stand eine Weile scheinbar unschlüssig im seichten Wasser und nach einer Weile verbeugte er sich tief, rührte mit dem Schnabel im Teich herum  und flog danach gemächlich zu seinem Schlafplatz davon. Ende Mai, als kein Frosch mehr zu hören war, kam der Reiher nicht mehr.

An besagtem Junimorgen hatte sich der Rabe auf dem begehrten Plätzchen früh eingefunden. Heute, das fühlte er schon seit Tagen, sollte in dieser kleinen Straße ein Ereignis mit Folgen stattfinden. Wie immer am Morgen geschah erst einmal nichts Außergewöhnliches. Die Bewohner fuhren in ihren Autos zur Arbeit, Kinder fuhren auf Fahrrädern zur Schule und Hundebesitzer führten ihre Lieblinge Gassi. Der Mann aus dem letzten Haus  zog wie jeden Morgen seinen Fahrradanhänger unter der Vortreppe hervor, hängte ihn an sein Fahrrad an und belud ihn mit Gießkannen. Dann fuhr auch er los, um mehrere, im Frühjahr gepflanzte Bäume zu gießen. Danach musste noch, das hatte der Rabe beobachtet, ein Gießsack an einer Linde der Hauptstraße nachgefüllt werden. Die Kannen wurden neu gefüllt. Richtung Gießsack ging es zu Fuß. Der Mann zog den Anhänger auf der Fahrbahn der Hauptstraße entlang. Nicht ohne Häme beobachtete der Rabe, wie sich hinter dem Fahrradanhänger ein kleiner Fahrzeugstau bildete, heute traute sich keiner, in der Kurve zu überholen. Und wie sonst auch jagten die Autos, nachdem der Mann seinen Anhänger von der Straße gezogen hatte, mit langem Hupen vorbei.  

Als letztes musste nun das kleine Blumenbeet zwischen Straße und Gehweg vor dem Nachbarhaus gegossen werden. Und nun nahm das schon lange Erwartete seinen Lauf. Zwei Punkte des Universums liefen auf vorgezeichneten Linien auf deren Schnittpunkt zu, um dort beim Zusammentreffen beachtliche Veränderungen auszulösen. Und genau neben diesem Schnittpunkt hatte zwischenzeitlich der Rabe auf der Straßenlaterne Platz genommen, um aus der Nähe alles noch besser beobachten zu können.

Der Mann lief also mit seinem Wägelchen die Straße zurück und zur gleichen Zeit hielt ein großes silbernes Auto genau neben dem kleinen Blumenbeet vor dem Nachbarhaus. Weil das Auto auch quer auf dem Gehweg stand, wechselte der Mann auf die Straße, schob den Fahrradanhänger unter die Vortreppe und füllte dann eine Kanne am Regenwassertank. Auf dem Weg zum kleinen Blumenbeet traf der Mann mit der Gießkanne in der Hand  auf die Nachbarin, die gerade hinter dem silbernen Auto hervortrat.

Der Rabe hüpfte mit beiden Füßen auf dem Dach der Straßenlaterne. Der Blechdeckel schepperte. Nicht krahkrah, los, jetzt!“

„Guten Morgen“ hörte der Mann sich mit einer ihm fremd klingenden Stimme sagen. „Darf ich Sie einen kleinen Moment aufhalten?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, sprach die Stimme weiter: „Ich wollte Sie schon ganz lange mal was fragen.“ Das war genau der Schnittpunkt. Und der Rabe wurde noch aufgeregter. “Hier vor Ihrem Haus ist doch dieses kleine Blumenbeet.“ Er wies mit der Hand in die Richtung des kleinen Blumenbeetes. „Ihre Nachbarin gegenüber und auch meine Frau und ich, wir pflegen dieses kleine Blumenbeet schon seit mehreren Jahren. Wir ziehen das Unkraut heraus, haben Blumen gepflanzt, Blumen gesät, Mittagsblumen, Akelei, Sonnenhut, und wir gießen die Blumen und den kleinen Baum jeden Tag. Und nun meine Frage: Können Sie sich vorstellen, wie soll ich das sagen, ist es für Sie vorstellbar, dass Sie mit Ihrem Auto nicht mehr durch das kleine Blumenbeet fahren? Sie und auch Ihre Besucher fahren täglich völlig ungerührt durch dieses kleine Blumenbeet.“

Jetzt war es endlich ausgesprochen.

Während die Nachbarin vor Überraschung kein Wort hervorbrachte, tauchte ihre Tochter vor dem silbernen Auto auf und sagte an ihre Mutter gewandt: „Du hast es hier ja nicht leicht mit dem Einparken, alles ist sehr eng, und wenn das andere Auto auch unter dem Carport steht, wird es noch schwieriger.“

„Ja, ja, da hast du recht, und dann ist dein Auto ja noch größer, noch breiter als meins. Hier ist einfach kein Platz zum Wenden.“  

„Stimmt, wenn ich hier wenden will, geht das nicht ohne …“ Die Tochter sprach den Satz nicht zu Ende.

„Dann wenden Sie doch wie alle anderen am Ende der Straße, da ist so viel Platz, dass selbst das Müllauto umdrehen kann!“ Der Mann klang bereits etwas ärgerlich.

„Na, wenn Ihnen das wichtig ist“, gab die Tochter nun auch etwas gereizt zurück, “ dann wende ich eben in Zukunft immer da hinten.“

„Mir ist das überhaupt nicht wichtig, dass Sie da hinten wenden. Mir ist nur wichtig, dass Sie mit Ihrem Auto nicht mehr durch das kleine Blumenbeet fahren. Mir tut das weh, wenn sie da täglich durchfahren.“

 „Ja, ich werde künftig da hinten wenden, weil Ihnen das Blumenbeet wichtig ist.“ Die Tochter wirkte genervt.

Die Nachbarin hatte dem Wortwechsel nachdenklich zugehört. Weit nach vorn gebeugt und mit schwerem Schritt ging sie zu dem Mann, der noch immer die Gießkanne in der Hand hielt, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte leise:“ Ich weiß, was Sie meinen. Sie lieben die Blumen. Wir werden uns bemühen …“

„Ich danke Ihnen.“

Die beiden Frauen fuhren mit dem großen silbernen Auto davon, der Mann goss das kleine Blumenbeet und der Rabe hüpfte mit lautem Gepolter auf dem Dach der Straßenlaterne. Jetzt erst bemerkte der Mann den Raben, sah zu ihm hinauf und für einen kurzen Moment schien es ihm, dieser habe ihm zugenickt.

Eigentlich war alles gut und der Mann ging daran, die weiteren Tagesaufgaben zu erledigen. Der Rabe hätte das ebenso tun können, blieb jedoch auf der Straßenlaterne hocken und darüber wunderte sich der Mann. Fehlte noch etwas?

Zwei Stunden später klingelte es an der Eingangstür. Wer sollte das sein?

Der Mann sah als Erstes aus dem Fenster zu der Straßenlaterne hin, dort hockte noch immer der Rabe.

Der Mann öffnete die Eingangstür. Auf der Treppe stand die Tochter von nebenan, oder besser, hing am Geländer. Sie schluchzte laut, Tränen liefen über ihr Gesicht und es dauerte einige Momente, bis sie etwas hervorbringen konnte. „Ich habe mir soeben das ganze Auto kaputt gemacht, alles nur wegen Ihnen“

Der Mann verstand nicht und murmelte: “Das tut mir leid.“

Das Häuflein Unglück richtete sich ein wenig auf. „Weil Mutti nicht da ist, wollte ich in das Carport reinfahren. Ich soll das immer so machen, wenn Mutti nicht da ist. Und ich bin so einen großen Bogen um das Blumenbeet gefahren“. Sie zeigte mit einer Armbewegung den großen Bogen. „Und dabei habe ich mir an dem Balken das ganze Auto auf der Seite geschrammt. Das ganze Auto ist kaputt“ Alles wegen Ihnen.“

„Das wollte ich nicht, es tut mir leid. Ich verstehe mich auf diese Dinge nicht, ich fahre selbst nicht Auto, immer nur Fahrrad.“

Der Rabe mischte sich vom Dach der Straßenlaterne in das Geschehen ein: “Krah-krah muss sein“ hörte der Mann ihn krächzen. Er sah empört zu ihm hinauf. Auf der Straßenlaterne wurde es ruhig und die Tochter schluchzte heftig auf: „Das ganze Auto ist kaputt, alles wegen Ihnen.“

„Wenn die Sache so steht, dann fahren sie doch weiter durch das kleine Blumenbeet, die Natur wird auch das überstehen.“

Der Rabe drehte angewidert den Kopf zur Seite und die Tochter der Nachbarin  schleppte sich schluchzend ohne weitere Worte die Treppe hinunter.

Seit einer Woche waren im kleinen Blumenbeet keine Reifenspuren zu sehen und die Mittagsblumen reckten die Blüten der Sonne entgegen. Der Rabe ließ sich übrigens auch jeden Tag kurz blicken.

*****

So lange die Sonne jeden Tag aufgeht

Der Rabe beobachtete von seinem hohen, kahlen Ast einer Eiche das Eichhörnchen, das am Waldboden aufgeregt hin- und hersprang und ständig Blätter, Boden und alles  mögliche andere mit den Pfoten aufwühlte. Es suchte offensichtlich etwas. Ein Eichelhäher landete unweit des Eichhörnchens am Boden mit einer Eichel im Schnabel, um sie unter der Eiche zu vergraben. Die Unruhe am Waldboden lenkte ihn jedoch ab und auch er beobachtete nun das Eichhörnchen.

 Nach einer Weile fragte er zu dem Eichhörnchen hinüber: „Hast du Hunger und findest deine Vorräte nicht mehr? Willst du meine Eichel hier haben?“.  „ Ja und nein“, begann das Eichhörnchen zu jammern, „was noch viel schlimmer ist, ich soll alle Eicheln und Nüsse wieder ausgraben! Die Obrigkeit hat verlangt, dass…“

 „Häää“, krächzte der Eichelhäher, er verstand überhaupt nichts. „Sie haben einen Brief geschickt und mir vorgeworfen, ich entsorge meine Sachen im Wald und pflanze heimlich Bäume. Ich kann aber  nicht anders, ich muss meine Eicheln im Boden verstecken, das hat mir meine Mutter so beigebracht…“ 

Während das Eichhörnchen so klagte, war der Rabe von seinem hohen Ast heruntergeschwebt. Er hockte sich auf das leere Gehäuse eines Fernsehapparates, das im Moos lag und konnte von dort alles gut hören, was gesprochen wurde. 

„Vielleicht bekommst du auch bald einen solchen Brief“, sprach das Eichhörnchen traurig weiter. Der Rabe nickte, er hatte den Brief schon auf einem hohen Stapel amtlicher Papiere liegen sehen, ganz oben drauf. „Und wenn du nicht machst, was sie verlangen, dann…“ „Gar nichts werde ich“, unterbrach der Eichelhäher das Eichhörnchen. „Ich werde und  ich kann auch nichts an meinen Lebensgewohnheiten ändern. Und ich werde ein lautes Geschrei anfangen und nicht mehr aufhören, dass ihnen die Ohren klingen“.

Der Rabe mischte sich nun ein: „Freunde, kommt Zeit, kommt Rat und die Suppe wird auch nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.“ Er hielt inne. „Freunde, es gibt gleich Ärger, volle Deckung!“ Der Rabe hopste von seinem Sitzplatz und kroch in das leere Gehäuse des Fernsehers hinein. Eine Gruppe lärmender Menschen näherte sich auf dem Weg nahe des kleinen Wäldchens. Der Eichelhäher flog auf mit einem lauten Geschrei. Dann flog eine leere Flasche durch die Luft, verfehlte den Eichelhäher und landete nach einer langen Kurve kurz hinter dem Gehäuse des Fernsehers, kullerte weiter und prallte schließlich gegen den rostigen Tank eines uralten Mopeds.

„Diese Gefahr ist vorüber“ sagte der Rabe etwas nachdenklich, als er aus seinem Versteck kroch. Wir werden eines Tages alle umziehen müssen, das wusste er schon, wenn er an den hohen Stapel amtlicher Papiere dachte.

„Du solltest deine Kräfte nicht verschwenden“, sprach der Rabe zum Eichelhäher, der einen ordentlichen Schreck bekommen hatte, „du wirst noch gebraucht. Und sei nicht traurig, Eichhörnchen, solange die Sonne jeden Tag aufgeht.“