Der Rabe
Der Baum war uralt. Er ragte kaum höher als die anderen Bäume im Hönower Wald, aber fünf Menschen hätten ihre Arme breiten müssen, um seinen Stamm zu umschließen. Auf mächtigen Krallenwurzeln gestützt schob sich wulstig der Stamm in die Höhe. So manches Wetter hatte ihn gezaust, so mancher Knorren war verdorrt, aber noch widerstand er jedem Sturm, noch wölbte sich die Krone und noch behauste er die Raben. In seinem Gezweig hatten sie seit jeher gesessen, hatten vieles gesehen und nichts vergessen.
Ich bin der Rabe im Baum. Meine Ahnen zählten zu den Auserwählten, die Noah mit in den Kasten nahm vor kaum denkbarer Zeit. Mein Urrabenvater, der Gedächtnis hieß, hat uns die Fähigkeit zur Entsinnung vererbt, die Gabe der Unvergesslichkeit, die kein anderes Geschöpf unter dem Himmel besitzt. Ich weiß alles, bis auf das wenige, das Gott für sich selber behielt.
Wenn die Mittagstunde schlägt, sitze ich auf dem Dach des Rathauses und beobachte die Verwaltenden, wie sie in ihre Pause aufbrechen. Jeden Tag schlägt die alte Kirchwärterin die Glocke zur gleichen Stunde. Im Winter wie im Sommer sitze ich und beobachte, sehe, wie die Zeiten sich wandeln, Menschen kommen und gehen und die Luft sich verändert.
Und hätte ich die Schwingen des Adlers und eine Stimme wie er, würde ich fliegen und das Ächzen von Mutter Erde unter menschlicher Herrschaft verbreiten. Aber ihr Klagen bleibt ungehört.
Ich bin der Rabe im Baum und ich erzähle die Geschichte, wie sie war. Blau und blau war der Himmel so blau.
*****
Ja, hättet ihr mal!
Der Rabe saß auf der Einfassung eines alten Ziehbrunnens inmitten einer schon seit vielen Jahren verlassenen Gärtnerei. Er betrachtete von dort aus den Walnussbaum neben dem halb eingefallenen Wohngebäude. Der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen und der Rabe versuchte abzuschätzen, wann die prallen Schalen der Walnüsse aufreißen und die Nüsse herausfallen würden. Schon begannen die Blätter in der Sonne des Spätsommers zu welken und die Zweige neigten sich unter der Last der Früchte.
Es war Eile geboten. Der Rabe hatte schon vor Tagen den großen Bagger bemerkt, der von einem Tieflader auf das Gelände gebracht wurde. Er wusste Bescheid. Schon oft waren mit solchem Gerät ganze Bäume aus der Erde gerissen worden, um Platz zu schaffen. Kürzlich hatte ein Bagger in der Nähe einige Gärten aufgeräumt, die Apfelbäume gepackt, hochgehoben und samt Blättern, Äpfeln und Nistkasten in einen Container geworfen. Der Rabe machte sich nichts aus Äpfeln, Nüsse dagegen waren Leckereien. Aus seiner Sicht.
Der Rabe kannte die Gärtnerei schon lange. Früher hockte er gerne auf dem Rand der Brunneneinfassung und bewunderte sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Das glänzende Gefieder, der untadelige Schnabel und überhaupt die ganze stolze Erscheinung. Im Laufe der Zeit entfernte der Spiegel sich immer weiter, bis er ganz verschwand. Auch die Eitelkeit des Raben verlor sich zunehmend und so fügte sich alles.
Neben der Sorge um die reifenden Walnüsse und der Beunruhigung, die von dem Bagger ausging, hatte noch etwas anderes die Aufmerksamkeit des Raben geweckt. Er hatte hier, wo weit und breit niemand zu sehen war, das Gefühl, er wäre nicht allein. Wenn er zu diesem Brunnen flog, hier, wo eine angenehme Stille herrschte, schien es ihm, als hörte er Stimmen. War es die Stille, die solche Illusionen erzeugte? Oder gab es tatsächlich Bewohner?
Es war kein Zweifel möglich. Er hörte ganz in seiner Nähe Stimmen. Der Rabe drehte sich, so dass er sich über die Brunneneinfassung ein wenig in den Brunnenschacht hinein beugen konnte. Ja, die Stimmen kamen aus der Tiefe des dunklen Brunnenschachtes.
„Immer dieses tägliche Einerlei. Ist es Tag, ist es Nacht? Ich weiß es nicht und diese Langeweile. Nichts passiert. Nichts ist zu tun.“
„Du musst dich noch gedulden, das wird nicht immer so bleiben.“
„Kein Zweifel“, dachte der Rabe, „das sind Brunnenfrösche“.
„Ich habe es lange satt! Das erzählst du mir jeden Tag. Und das schon seit Jahren. Nichts hat sich geändert.“
Nach längerem Schweigen erwiderte der andere Brunnenfrosch:
„Ich erinnere mich gern daran, wie es früher war, das hilft mir.“
„Ja, früher, da haben wir oft auf dem Brunnenrand gesessen und in die Welt geschaut.“
„Genau, du hast auf die Prinzessin gewartet, die mit der goldenen Kugel. Wie oft hast du davon geredet, du wärest ein verwunschener Prinz. Ich glaube das einfach nicht.“
„Ich bin ein Prinz! Kapier das doch endlich.“
„Aber es ist doch keine Prinzessin gekommen mit einer goldenen Kugel. Es kamen nur Leute, die einen alten Grill in den Brunnen geworfen haben. Und später noch eine Schubkarre und eine alte Waschmaschine. Und in diesem rostigen Gerümpel wohnen wir heute“.
„Die Prinzessin wird mich eines Tages erlösen und du musst alleine sehen, wie du klarkommst.“
„Nun sei mal nicht so krötig. Überleg doch mal, wie soll sie dich hier unten finden. Und wenn die goldene Kugel wirklich in den Brunnen fällt, wie willst du sie denn nach oben bringen, hier, wo es kein Wasser mehr gibt? Du müsstest doch mit der goldenen Kugel nach oben schwimmen und sie über den Brunnenrand werfen. Und außerdem: Das Schloss ist doch schon lange eingefallen, da wohnt keiner mehr. Auch keine Prinzessin.“
„Wie gerne würde ich wieder in den Spiegel schauen, vom Brunnenrand. Früher habe ich auch manchmal den Raben beobachtet, wie er in den Spiegel geschaut hat, wie der sich dabei aufgeplustert hat. Er hat mich nicht bemerkt, ich habe immer von unten durch den Spiegel geschaut.“
„Schau mich doch einfach an, ich bin jetzt dein Spiegel.“
„Dass ich nicht lache, du müsstest dich einmal sehen, so möchte ich wirklich nicht aussehen.“
„Du siehst auch nicht besser aus.“
„Ja, ja, wir haben uns wahrscheinlich nicht zu unserem Vorteil verändert. Es fehlt das tägliche Schönheitsbad und die Ernährungsumstellung tut das Übrige. Keine Mücke mehr, keine Fliege. Nur noch Käfer, Spinnen und diese Nacktschnecken. Nie hätte ich geglaubt, davon eines Tages leben zu können.“
„Der Frosch gewöhnt sich an alles, hat schon meine Oma gesagt. Ach, meine Oma.“
Es trat Schweigen ein. Nach einer ganzen Weile sprach der Brunnenfrosch, der eigentlich ein Prinz war, weiter:
„Kannst du dich noch erinnern, wie eines Tages der rosa Frosch hier vorbei kam, der uns eine Leiter aufschwatzen wollte? Das war kurz nachdem die Menschen das Schloss verlassen hatten und die Prinzessin auch fortging.“
„Na, den haben wir tüchtig ausgelacht. Eine Leiter für Frösche! Das sind diese Geschichten, die sich Menschen ausgedacht haben. Gibt es schönes Wetter, steigt der Frosch die Leiter hoch. Und wenn es regnen soll, sitzt er unten. Ist genau der gleiche Quatsch wie der Frosch, der ein verzauberter Prinz ist.“
„Ich bin ein Prinz! Daran glaube ich fest. Und manchmal habe ich schon gedacht, wir hätten damals die Leiter nehmen sollen. Dann müssten wir heute nicht hier unten sitzen:
Es trat wieder Schweigen ein. Und der Rabe dachte „Ja, hättet ihr mal!“
Tiefe Trauer erfasste ihn bei seinen Überlegungen, wie es nun weitergehen würde.
Dann erschrak der Rabe, weil plötzlich die Turbine des Baggers aufheulte. Er wollte losfliegen, aber seine Flügel versagten ihm den Dienst.
*****
Ein Ausflug nach Stralsund
Auf dem abgelegenen Bereich eines Parkplatzes versuchte eine Elster mit großer Ausdauer, eine erbeutete Nuss zu öffnen. Sie flog immer wieder einige Meter in die Höhe und lies die Nuss fallen. Die Nuss gab noch nicht auf.
Das Geschehen hatte mehrere Beobachter, den Mann mit dem Fahrrad, der gerade die Einkäufe auf dem Gepäckständer befestigt hatte und den Raben, der interessiert vom Dach einer Laterne zusah. Um besser sehen zu können, näherte sich der Mann mit seinem Fahrrad vorsichtig und dabei fiel sein Blick auf den Raben. Den hatte er schon gesehen, zumindest kam es ihm so vor. Das Dach der Laterne und der Rabe, der sich so nach unten beugte, so konzentriert wirkte. Quatsch, dachte er, diese Tiere sehen doch alle gleich aus.
Der Rabe löste sich von seinem Platz, schwebte nach unten und landete förmlich auf der Nuss. Die Elster hatte scheinbar nicht mit dem Angriff von der Seite gerechnet, landete ebenfalls und meckerte aus einiger Entfernung. Den Raben störte das wiederum nicht. Unter zwei Hieben seines Schnabels gab die Nussschale nach und er zerlegte die beiden Hälften.
Der Mann hatte fasziniert zugesehen und nicht bemerkt, dass er mit seinem Fahrrad scheinbar einem Autofahrer im Weg stand.
Es hupte durchdringend, der Rabe und die Elster flogen auf, die Reste der Nuss blieben liegen. Und der Mann hatte auch einen gehörigen Schreck bekommen. „Mensch, Alter, schlaf nicht ein auf der Straße“. Wieso kann der Idiot nicht dort langfahren, wo Platz ist, dachte der Mann mit dem Fahrrad und drehte sich langsam um. Na klar, so ein Typ mit viel zu großem Auto! Er starrte auf die Frontscheibe.
„Mensch, Alter“, erklang nochmals die Stimme des Autofahrers, der Typ beugte sich aus dem Fenster, “Kollege, das ist ja eine Sache, wie lange haben wir uns nicht gesehen?“ Und nun erkannte auch der Mann mit dem Fahrrad seinen Kollegen Wolfgang. Dieser hatte offenbar nicht gleich seinen Vornamen auf die Zunge bekommen?
„Ja, ist schon mehr als 30 Jahre zurück“. Am Ende einer gewaltigen Erosion des Gemeinwesens wurden sie gemeinsam mit vielen anderen Kollegen scheinbar wie auf Knopfdruck ohne jegliche Rücksichtnahme auf die Straße geschüttet. Dieser wuchtige Schlussakkord hatte das Aluminium- Zeitalter am Vorabend des Tages beendet, an dem das Zeitalter des ewigen Konsumglücks beginnen sollte.
Nachdem sie die wichtigsten Ereignisse der vergangenen 30 Jahre im Schnelldurchlauf besprochen hatten, lud Wolfgang seinen Kollegen zu einem Ausflug nach Stralsund ein, er wolle in der nächsten Woche mal das Meeresmuseum besuchen.
„Und sag noch mal bitte, deinen Vornamen, irgendwie komme ich nicht drauf“.
“Kay, eigentlich Kay Uwe“.
„Ja, ja, ich werde schon langsam vergesslich“.
Sie verabredeten sich für Donnerstag 8.00 Uhr.
Vor der Abfahrt bat Kay, doch die 96 zu nehmen wegen der schönen Landschaft. „Nee nee“, wehrte Wolfgang ab, „da kommen wir nicht vorwärts, wir nehmen die A20.“ „Aber“, versuchte Kay erneut, „wir haben es doch nicht eilig und…“. „Nein ist doch Quatsch, das Auto muss mal richtig ausgefahren werden.“ Kay zögerte noch mit dem Einsteigen. „Los, komm, ab geht er“.
Zuerst fuhren sie auf der A11, überholten Ketten von LKWs, dann eine Baustelle, runter auf 60, danach wieder weiter mit 160, dann das Ende eines Staus.
So richtig kam keine Unterhaltung zustande, Wolfgang hatte permanent das Verhalten anderer Autofahrer zu kommentieren. Hektisches Bremsen, „oh, dieser Pole, der kann doch bei uns nicht machen was er will. Überhaupt diese Polen, verstopfen hier unsere Straßen. Und diese Litauer auch, die haben hier nichts verloren“.
Sie jagten an der nächsten Kette polnischer LKWs vorbei und Kays Magen zeigte an, dass er seinen Inhalt dringend loswerden wollte. Er wusste jetzt wieder, warum er beim Einsteigen gezögert hatte. Gott sei Dank wieder ein Stau, der Magen konnte sich etwas beruhigen.
Irgendwann verließen sie die A 11 und fuhren auf der A 20 mit konstant 170 auf einer fast leeren Fahrbahn weiter durch endlose blühende Rapsfelder. „Ein herrlicher Anblick“, meinte Wolfgang schwärmerisch. „Im Tank haben möchte ich den Bio-Sprit aber nicht.“ Kay fragte zurück, „wie willst du das verhindern?“ „Ich tanke nur in Polen, die mischen da kein Rapsöl rein und außerdem spare ich je Liter 25ct.“
Kays Blick verweilte nachdenklich auf der Frontscheibe. Er musste daran denken, wie die Frontscheibe des Wartburgs aussah, wenn sie früher von Berlin nach Stralsund fuhren. Damals tuckerten sie mit 80 auf der 96 entlang, sie hatten des Öfteren dienstlich in der Werft in Stralsund zu tun. Der Wartburg kannte nur Stadtverkehr und wollte auch außerhalb der Stadt kaum schneller fahren. Schon beim Losfahren hatte der Fahrer damals immer herumgepoltert, dass er auf der halben Strecke mal kurz Rast machen müsse, um die Frontscheibe zu reinigen, denn die während der Fahrt beim Aufprall zerplatzten Insekten versperrten den Blick auf die Straße. Beim Zwischenstopp nahm der Fahrer den Wasserkanister aus dem Kofferraum und sein Putzzeug, ein altes Stück Feinrippunterhemd, und wischte sorgfältig die Frontscheibe. Dennoch blieben auf der Scheibe immer einige Mahnmale zurück.
Kay fragte seinen Kollegen, wie sich das heute mit den Insekten und den Frontscheiben verhält. „Keine Ahnung“, sagte er, „aber wahrscheinlich hat das etwas mit der aerodynamischen Bauweise der modernen Fahrzeuge zu tun. Ist eben keine Schrankwand, die auf der Straße fährt.“
Das Gespräch kam dann ganz automatisch auf das Thema Windkraft. Rechts und links der Autobahn tauchten viele Windräder auf, die sich munter drehten. Kay war mit seinen Gedanken noch bei den Insekten und Frontscheiben, als er den Kollegen sagen hörte: „Diese Windräder bieten echt keinen schönen Anblick, die ganze Natur wird dadurch verschandelt“. Wolfgang sprach weiter über die Gefahren, die diese Windräder für die Natur darstellen. Es sei schon beobachtet worden, dass Vögel durch ein Rotorblatt getroffen und getötet wurden und Kay müsse sich mal vorstellen, dass sich so ein Rotorblatt an seinem äußersten Ende mit einer Geschwindigkeit von 260 km/h bewege. Er redete und redete. „Ja“, sagte Kay, „schlimm diese Vögel und diese Insekten.“ Und in diesem Moment spürte Kay, wie sich Widerstand in ihm regte.
Nachdem der Kollege bei Tempo 170 seine Ausführungen über die Folgen der Windkraft zu Ende gebracht hatte, entschloss Kay sich zu einer Gegenrede. „Weißt du, ich will dir, wahrem Naturfreund, mal Folgendes erzählen: Im vorigen Jahr hatte sich in unserem kleinen Garten unter dem Fahrradschuppen eine Igelmutter einquartiert und ihre Jungen dort zur Welt gebracht. Im August gingen die Igelkinder in unserem Garten spazieren und kehrten immer am Abend in das Nest zurück. Wir waren echt stolz darauf, dass die Igelmutter sich unseren Garten ausgesucht hatte. Im September wurden die vier Igelkinder dann selbstständiger und ich blickte mit Sorge auf ihre größeren Ausflüge. Ende September verließ ein Igelkind nach dem anderen unseren Garten und zog hinaus in die weite Welt. Als alle fort waren, machte ich mir Sorgen über das Schicksal der kleinen Igel. Mitte Oktober wurden meine Sorgen zur Gewissheit. Auf meinem Weg zur Straßenbahn sah ich in der 30er S-Kurve am rechten Straßenrand einen kleinen toten Igel liegen. Zwei Tage später lag noch ein kleiner Igel tot vor der Einfahrt in die Bushaltestelle. Ich habe die beiden Igelkinder in unserem Garten zurückgebracht und unter dem Apfelbaum begraben.“
Wolfgang schwieg eine ganze Weile. „Ja, das ist nicht schön, das kann man nicht verhindern, aber woher willst du wissen, dass das die Igel aus deinem Garten waren?“ Darauf konnte Kay nichts erwidern, die ganze Trauer und der Frust waren in ihm wieder erwacht.
Kay war ganz elend zumute und wollte nur noch dieses Auto verlassen, nur noch aus diesem Auto aussteigen.
In Stralsund angekommen, verabschiedete er sich von seinem Kollegen und fuhr mit dem Zug nach Berlin zurück. Den Besuch des Meeresmuseums mit Wolfgang hatte er gestrichen.
Die Nachmittagssonne verbreitete noch diese sanfte, angenehme frühlingshafte Wärme, als Kay in die kleine Straße einbog. Vor dem Hauseingang bemerkte Kay die auf der Straße liegenden Nussschalen. Und sein Blick wanderte automatisch hinauf zu der Straßenlaterne. Es war niemand zu sehen. Nur zu hören war, wie ein Vogel scheinbar verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. „Da hast du mich letzte Woche ganz schön verladen mit deinen Kunststücken.“ Und etwas versöhnlicher fügte er hinzu: “Deine Schalen räumst du bitte das nächste Mal von der Straße.“
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Jessica hat geschrieben
Heute Morgen, nachdem es hell geworden war, lief ich zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen. Draußen ging ein stürmischer Wind, ein feiner, dichter Regen erfüllte die Luft, es war sehr ungemütlich. Mit den Zeitungen in der Hand zog ich den Abtreter, den der Wind weggeschoben hatte, wieder an seine Position vor die Tür zurück. Dabei kam unter dem Abtreter ein Umschlag zum Vorschein. Ich zog ihn ganz hervor, drehte ihn hin und her, aber weder eine Anschrift noch ein Absender waren darauf. „Was soll bitte das“, dachte ich, „wozu ist der Briefkasten da. Und kein Absender, komisch“.
Ich sah mich um nach allen Seiten, vielleicht war der Bote noch in der Nähe. Weder Mensch, noch Hund oder Katze waren auf der Straße zu sehen bei so scheußlichem Wetter. Trotzdem entstand bei mir der Eindruck, ich werde beobachtet. Hinter irgendeinem Fenster sieht mir Jemand zu, beobachtet, ob ich den Umschlag finde und aufhebe. Das würde einen Sinn ergeben, aber warum hat sie oder er den Umschlag nicht besser in den Briefkasten geworfen? Zumal bei diesem Wetter?
Ich sah mich nochmals um, aber ich konnte nichts entdecken, was als Erklärung dienen könnte.
Nur auf dem Giebel gegenüber, dort wo in letzter Zeit häufig ein Baumfalke die Umgebung beobachtet hatte, hockte heute ein Kolkrabe. Nichts Besonderes. Er sah zu mir herunter, sein Schnabel wippte mehrmals auf und ab, als würde er mir zunicken. Dann breitete er seine Flügel aus und schwebte ohne Hast davon.
Drinnen im Trockenen nahm ich mir den Umschlag vor. Es war so ein hellgrauer Umschlag von früher, offen. Ich zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Das Blatt war einfach nur leer auf beiden Seiten. Mit dem Blatt Papier in der Hand kam ich nach längeren Überlegungen zu dem Schluss, hier hat jemand einen Spaß gemacht, ich werde mich jedoch nicht darüber ärgern.
In die noch nicht ganz abgeschlossenen Überlegungen hinein klingelte das Telefon. Nach mehreren „Hallo“ legte ich ärgerlich auf, weil sich am anderen Ende der Leitung niemand meldete. „Alles klar“, dachte ich, „das passt gut zusammen, vergiss es einfach. Ab in die Tonne mit dem Brief, der gar keiner ist.“
Ich nahm das Blatt Papier vom Tisch, warf einen letzten Blick darauf und erstarrte. Das Blatt, das bis eben noch leer war – zumindest hatte ich das angenommen, war eng beschrieben. Wo ist die Brille? Mit zitternden Händen setzte ich sie auf und las:
„Lieber Paul,
ja, ich weiß, ich hatte Dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“
„Hm, ein Brief an Paul, nicht an mich. Gut, ich werde den Brief zurück in den Umschlag legen und Paul geben … Doch halt, wer ist der Absender. Und überhaupt, wieso war das Blatt vorhin leer und jetzt ist es ein Brief? Und was sollte der Brief unter dem Abtreter? Der war auch völlig trocken, trotz des Regens. Und wieso saß gerade heute der Rabe da oben auf dem Giebel?
Schweißperlen traten auf meine Stirn. Gleichzeitig zog eine unbekannte Kraft meinen Körper nach hinten. Das war zu viel auf einmal.
Ich erwischte mit dem Pops gerade noch die Sitzfläche eines Küchenstuhls. Dann wischte ich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
„Jetzt ganz langsam, eins nach dem anderen. Als erstes ein Handyfoto von dem Brief, wer weiß, wie lange der Text auf dem Papier bleibt. Dann den Brief wieder eintüten und Paul anrufen.“ Ich trenne mein Handy vom Ladekabel, will es einschalten, aber es lässt sich nicht entsperren. Mir fällt auf, ich habe eiskalte, feuchte Finger. Das kenne ich, immer dann geht die Touch-ID nicht. Wie war nur das blöde Passwort? Irgendwann bekomme ich das Telefon eingeschaltet. Auf dem Bildschirm wird der Brief sichtbar und ich löse aus. Dann sehe ich mir das Foto auf dem Telefon an. Der Text ist gut zu lesen; nur, je länger ich hinsehe, umso blasser wird er. Irgend so ein neuer Effekt, denke ich noch. Dann wird mit schärfer werdenden Konturen das Gesicht einer Frau erkennbar. Die Frau kenne ich, zumindest kommt es mir so vor. Claudia, sie singt im Chor, ist die Mutter von Jessica. Oder ist es doch nicht Claudia, sieht ihr nur sehr ähnlich? Aber wie kommt diese Frau in mein Telefon?
Sie lächelt, sieht mich an. Dann bewegt sie die Lippen ein wenig und beginnt zu sprechen:
„Lieber Paul,
ja, ich weiß, ich hatte dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“
„Nein“, rufe ich laut, das ist ein Missverständnis, ich bin nicht Paul.“
Die Frau runzelt die Stirn etwas und unterbricht mich: „Ich spreche gerade zu Paul, Sie können da meinetwegen zuhören, aber lassen Sie mich einfach sprechen.“ Mir stand der Mund offen, wagte nicht, noch etwas einzuwenden. Also doch nicht Claudia, aber absolut ähnlich, die Augen, der Mund. Nur das Haar, wirkt sehr natürlich, ist schon ganz schön grau. Claudia färbt sich ihre Haare , Kastanie, trägt sie auch viel kürzer.
Die Frau lächelt wieder und spricht weiter:
„Ich wollte dir erzählen, was hier in der letzten Zeit so los war. Eigentlich nichts Besonderes.
Neulich hat sich Timm mal wieder gemeldet, der von der JG. Die Woche wäre wieder Scooter-Dance in Ahrensfelde, er würde mit Katharina hingehen, sie war auch bei der JG und sie sind heute immer noch zusammen. Wir könnten ein wenig schnattern und Spaß haben. Ich war noch nie zum Scooter-Dance. Was soll ich da alleine.
Naja, ich habe zugesagt und bin gestern mit hingefahren. Da sind bestimmt 300 Leute zusammengekommen, wegen der großen Beteiligung und des guten Wetters fand die Party auf dem Rathausplatz statt. Wenn ich mir das so recht überlege, es ist Mitte Februar und die Lebensabendgenießenden kurzärmelig und mit kurzen Hosen, völlig schräg. Die meisten waren auf ihren Scootern angereist, deswegen heißt die Veranstaltung wohl auch Scooter-Dance. Früher hieß das Seniorennachmittag oder so ähnlich. Hat mich wirklich nicht interessiert.
Du wirst es nicht glauben, aber ich habe Timm und Katharina nicht wiedererkannt. Hatte sie auch viele Jahre nicht gesehen. Gott sei Dank hat Timm mich gefunden. Wir saßen dann an einer der langen Tafeln und haben schön erzählt. Natürlich ging es am meisten um die ganz alten Geschichten.
Schön wäre es gewesen, du hättest mit dabei sein können. Ich weiß, ich hätte dir das vorher schreiben müssen, tut mir leid.
Timm hat erzählt, wie ihr als Kinder auf dem Feuerwehrteich Schlittschuhe gelaufen seid. Die Feuerwehr hatte einen Grill aufgestellt, es gab Bratwurst und für die Erwachsenen Glühwein, Musik gab es auch und es war schweinekalt. Nach dem Eishockeyspiel der Feuerwehrleute sind wir mit unseren Schlittschuhen über das Eis geschossen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich damals auch dabei war, nur kannten wir uns noch nicht. Ich denke, es war im Februar 2011 und es war auch das letzte Mal, dass wir auf dem Feuerwehrteich Schlittschuh gelaufen sind. Mir war das damals überhaupt nicht klar, dass es das letzte Mal war, es überhaupt ein letztes Mal geben könnte.
Bis heute hat sich da eine Menge verändert. Der Feuerwehrteich ist schon vielen Jahren ausgetrocknet, dann sind die Pappeln eine nach der anderen eingeknickt und heute steht auf der Stelle ein Mobility-Hub mit Landeplatz für Lastendrohnen. Nicht schön.
Bei den alten Geschichten wurde mir immer schwerer ums Herz, irgendwann musste ich aufstehen und gehen. Ich möchte da auch nicht wieder hin. Am liebsten würde ich auswandern, irgendwohin, wo es so ist, wie früher.“
Der Frau rannen Tränen über die Wangen. Mir war auch nach Heulen.
Nach und nach verschwamm das Bild, ich hörte sie noch leise sagen: „Paul, lass uns mal reden, ich würde gern zu dir kommen in deinen hohen Norden. Ich umarme dich. Jessi“
„Batterie fast leer“ konnte ich gerade noch erkennen, dann war der Bildschirm schwarz.
Lange saß ich in der Küche, das Telefon noch immer in der Hand. Auf dem Tisch lagen der graue Umschlag, das leere Blatt und die Zeitungen vom 12. Februar.
„Strom“, dachte ich, „das Foto von dem Brief“. Als mein Telefon wieder atmete, suchte ich nach dem Foto, es gab kein Foto von heute. Was soll ich Paul sagen?
Ich versank wieder in Gedanken. Nach und nach wurde einiges klarer, Jessica hat an Paul geschrieben. Das ist doch logisch. Dann war sie auch die Frau in meinem Telefon? Wobei, ich kenne doch Jessica, sie hat im letzten Jahr oft mit Paul an diesem Küchentisch gesessen, waren fast noch Kinder. Gar nichts ist klar.
So verging die Zeit und der Abend zog herauf.
Es war Mitte Februar, nicht richtig kalt und noch nicht warm.
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Ein kleines Blumenbeet
Die Dämmerung hatte aus der kurzen Nacht einen kühlen, klaren Morgen gezaubert. Spatzen tobten in den Dachrinnen, Rotschwänze versorgten bereits die hungrigen Kinder und der Kuckuck war wie jeden Morgen aus der Ferne zu hören.
Bevor die ersten Bewohner der Straße aus ihren Häusern traten, flog noch ein Rabe herbei und hockte sich auf den Giebel eines der kleinen Häuser. Er konnte von dort sowohl die Straßenseite als auch die Gärten hinter den Häusern überblicken. Man sah dem Giebelstein an, dass dieser Platz bei kleineren und auch großen Vögeln sehr beliebt war.
Den ganzen April hindurch hatte hier hoch oben ein Amselmann jeden Abend bis zum Dunkelwerden seine wunderschönen Liebeslieder gesungen. Anfang Mai musste der Amselmann den Platz jedoch dem Graureiher überlassen. Dieser war, wie sich herausstellte, ein Liebhaber der Chorkonzerte vom Froschteich hinter dem Haus. Der Reiher stand fortan bis lange nach der Dämmerung auf dem Giebelstein und lauschte andächtig den eher eintönigen Gesängen der Frösche. Musik ist ja bekanntlich Geschmackssache, auch für den Graureiher. Wenn die Bewohner der Straße ins Bett gegangen waren, schwebte der Reiher langsam zum Froschteich hinunter, stand eine Weile scheinbar unschlüssig im seichten Wasser und nach einer Weile verbeugte er sich tief, rührte mit dem Schnabel im Teich herum und flog danach gemächlich zu seinem Schlafplatz davon. Ende Mai, als kein Frosch mehr zu hören war, kam der Reiher nicht mehr.
An besagtem Junimorgen hatte sich der Rabe auf dem begehrten Plätzchen früh eingefunden. Heute, das fühlte er schon seit Tagen, sollte in dieser kleinen Straße ein Ereignis mit Folgen stattfinden. Wie immer am Morgen geschah erst einmal nichts Außergewöhnliches. Die Bewohner fuhren in ihren Autos zur Arbeit, Kinder fuhren auf Fahrrädern zur Schule und Hundebesitzer führten ihre Lieblinge Gassi. Der Mann aus dem letzten Haus zog wie jeden Morgen seinen Fahrradanhänger unter der Vortreppe hervor, hängte ihn an sein Fahrrad an und belud ihn mit Gießkannen. Dann fuhr auch er los, um mehrere, im Frühjahr gepflanzte Bäume zu gießen. Danach musste noch, das hatte der Rabe beobachtet, ein Gießsack an einer Linde der Hauptstraße nachgefüllt werden. Die Kannen wurden neu gefüllt. Richtung Gießsack ging es zu Fuß. Der Mann zog den Anhänger auf der Fahrbahn der Hauptstraße entlang. Nicht ohne Häme beobachtete der Rabe, wie sich hinter dem Fahrradanhänger ein kleiner Fahrzeugstau bildete, heute traute sich keiner, in der Kurve zu überholen. Und wie sonst auch jagten die Autos, nachdem der Mann seinen Anhänger von der Straße gezogen hatte, mit langem Hupen vorbei.
Als letztes musste nun das kleine Blumenbeet zwischen Straße und Gehweg vor dem Nachbarhaus gegossen werden. Und nun nahm das schon lange Erwartete seinen Lauf. Zwei Punkte des Universums liefen auf vorgezeichneten Linien auf deren Schnittpunkt zu, um dort beim Zusammentreffen beachtliche Veränderungen auszulösen. Und genau neben diesem Schnittpunkt hatte zwischenzeitlich der Rabe auf der Straßenlaterne Platz genommen, um aus der Nähe alles noch besser beobachten zu können.
Der Mann lief also mit seinem Wägelchen die Straße zurück und zur gleichen Zeit hielt ein großes silbernes Auto genau neben dem kleinen Blumenbeet vor dem Nachbarhaus. Weil das Auto auch quer auf dem Gehweg stand, wechselte der Mann auf die Straße, schob den Fahrradanhänger unter die Vortreppe und füllte dann eine Kanne am Regenwassertank. Auf dem Weg zum kleinen Blumenbeet traf der Mann mit der Gießkanne in der Hand auf die Nachbarin, die gerade hinter dem silbernen Auto hervortrat.
Der Rabe hüpfte mit beiden Füßen auf dem Dach der Straßenlaterne. Der Blechdeckel schepperte. Nicht krahkrah, los, jetzt!“
„Guten Morgen“ hörte der Mann sich mit einer ihm fremd klingenden Stimme sagen. „Darf ich Sie einen kleinen Moment aufhalten?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, sprach die Stimme weiter: „Ich wollte Sie schon ganz lange mal was fragen.“ Das war genau der Schnittpunkt. Und der Rabe wurde noch aufgeregter. “Hier vor Ihrem Haus ist doch dieses kleine Blumenbeet.“ Er wies mit der Hand in die Richtung des kleinen Blumenbeetes. „Ihre Nachbarin gegenüber und auch meine Frau und ich, wir pflegen dieses kleine Blumenbeet schon seit mehreren Jahren. Wir ziehen das Unkraut heraus, haben Blumen gepflanzt, Blumen gesät, Mittagsblumen, Akelei, Sonnenhut, und wir gießen die Blumen und den kleinen Baum jeden Tag. Und nun meine Frage: Können Sie sich vorstellen, wie soll ich das sagen, ist es für Sie vorstellbar, dass Sie mit Ihrem Auto nicht mehr durch das kleine Blumenbeet fahren? Sie und auch Ihre Besucher fahren täglich völlig ungerührt durch dieses kleine Blumenbeet.“
Jetzt war es endlich ausgesprochen.
Während die Nachbarin vor Überraschung kein Wort hervorbrachte, tauchte ihre Tochter vor dem silbernen Auto auf und sagte an ihre Mutter gewandt: „Du hast es hier ja nicht leicht mit dem Einparken, alles ist sehr eng, und wenn das andere Auto auch unter dem Carport steht, wird es noch schwieriger.“
„Ja, ja, da hast du recht, und dann ist dein Auto ja noch größer, noch breiter als meins. Hier ist einfach kein Platz zum Wenden.“
„Stimmt, wenn ich hier wenden will, geht das nicht ohne …“ Die Tochter sprach den Satz nicht zu Ende.
„Dann wenden Sie doch wie alle anderen am Ende der Straße, da ist so viel Platz, dass selbst das Müllauto umdrehen kann!“ Der Mann klang bereits etwas ärgerlich.
„Na, wenn Ihnen das wichtig ist“, gab die Tochter nun auch etwas gereizt zurück, “ dann wende ich eben in Zukunft immer da hinten.“
„Mir ist das überhaupt nicht wichtig, dass Sie da hinten wenden. Mir ist nur wichtig, dass Sie mit Ihrem Auto nicht mehr durch das kleine Blumenbeet fahren. Mir tut das weh, wenn sie da täglich durchfahren.“
„Ja, ich werde künftig da hinten wenden, weil Ihnen das Blumenbeet wichtig ist.“ Die Tochter wirkte genervt.
Die Nachbarin hatte dem Wortwechsel nachdenklich zugehört. Weit nach vorn gebeugt und mit schwerem Schritt ging sie zu dem Mann, der noch immer die Gießkanne in der Hand hielt, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte leise:“ Ich weiß, was Sie meinen. Sie lieben die Blumen. Wir werden uns bemühen …“
„Ich danke Ihnen.“
Die beiden Frauen fuhren mit dem großen silbernen Auto davon, der Mann goss das kleine Blumenbeet und der Rabe hüpfte mit lautem Gepolter auf dem Dach der Straßenlaterne. Jetzt erst bemerkte der Mann den Raben, sah zu ihm hinauf und für einen kurzen Moment schien es ihm, dieser habe ihm zugenickt.
Eigentlich war alles gut und der Mann ging daran, die weiteren Tagesaufgaben zu erledigen. Der Rabe hätte das ebenso tun können, blieb jedoch auf der Straßenlaterne hocken und darüber wunderte sich der Mann. Fehlte noch etwas?
Zwei Stunden später klingelte es an der Eingangstür. Wer sollte das sein?
Der Mann sah als Erstes aus dem Fenster zu der Straßenlaterne hin, dort hockte noch immer der Rabe.
Der Mann öffnete die Eingangstür. Auf der Treppe stand die Tochter von nebenan, oder besser, hing am Geländer. Sie schluchzte laut, Tränen liefen über ihr Gesicht und es dauerte einige Momente, bis sie etwas hervorbringen konnte. „Ich habe mir soeben das ganze Auto kaputt gemacht, alles nur wegen Ihnen“
Der Mann verstand nicht und murmelte: “Das tut mir leid.“
Das Häuflein Unglück richtete sich ein wenig auf. „Weil Mutti nicht da ist, wollte ich in das Carport reinfahren. Ich soll das immer so machen, wenn Mutti nicht da ist. Und ich bin so einen großen Bogen um das Blumenbeet gefahren“. Sie zeigte mit einer Armbewegung den großen Bogen. „Und dabei habe ich mir an dem Balken das ganze Auto auf der Seite geschrammt. Das ganze Auto ist kaputt“ Alles wegen Ihnen.“
„Das wollte ich nicht, es tut mir leid. Ich verstehe mich auf diese Dinge nicht, ich fahre selbst nicht Auto, immer nur Fahrrad.“
Der Rabe mischte sich vom Dach der Straßenlaterne in das Geschehen ein: “Krah-krah muss sein“ hörte der Mann ihn krächzen. Er sah empört zu ihm hinauf. Auf der Straßenlaterne wurde es ruhig und die Tochter schluchzte heftig auf: „Das ganze Auto ist kaputt, alles wegen Ihnen.“
„Wenn die Sache so steht, dann fahren sie doch weiter durch das kleine Blumenbeet, die Natur wird auch das überstehen.“
Der Rabe drehte angewidert den Kopf zur Seite und die Tochter der Nachbarin schleppte sich schluchzend ohne weitere Worte die Treppe hinunter.
Seit einer Woche waren im kleinen Blumenbeet keine Reifenspuren zu sehen und die Mittagsblumen reckten die Blüten der Sonne entgegen. Der Rabe ließ sich übrigens auch jeden Tag kurz blicken.
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So lange die Sonne jeden Tag aufgeht…
Der Rabe beobachtete von seinem hohen, kahlen Ast einer Eiche das Eichhörnchen, das am Waldboden aufgeregt hin- und hersprang und ständig Blätter, Boden und alles mögliche andere mit den Pfoten aufwühlte. Es suchte offensichtlich etwas. Ein Eichelhäher landete unweit des Eichhörnchens am Boden mit einer Eichel im Schnabel, um sie unter der Eiche zu vergraben. Die Unruhe am Waldboden lenkte ihn jedoch ab und auch er beobachtete nun das Eichhörnchen.
Nach einer Weile fragte er zu dem Eichhörnchen hinüber: „Hast du Hunger und findest deine Vorräte nicht mehr? Willst du meine Eichel hier haben?“. „ Ja und nein“, begann das Eichhörnchen zu jammern, „was noch viel schlimmer ist, ich soll alle Eicheln und Nüsse wieder ausgraben! Die Obrigkeit hat verlangt, dass…“
„Häää“, krächzte der Eichelhäher, er verstand überhaupt nichts. „Sie haben einen Brief geschickt und mir vorgeworfen, ich entsorge meine Sachen im Wald und pflanze heimlich Bäume. Ich kann aber nicht anders, ich muss meine Eicheln im Boden verstecken, das hat mir meine Mutter so beigebracht…“
Während das Eichhörnchen so klagte, war der Rabe von seinem hohen Ast heruntergeschwebt. Er hockte sich auf das leere Gehäuse eines Fernsehapparates, das im Moos lag und konnte von dort alles gut hören, was gesprochen wurde.
„Vielleicht bekommst du auch bald einen solchen Brief“, sprach das Eichhörnchen traurig weiter. Der Rabe nickte, er hatte den Brief schon auf einem hohen Stapel amtlicher Papiere liegen sehen, ganz oben drauf. „Und wenn du nicht machst, was sie verlangen, dann…“ „Gar nichts werde ich“, unterbrach der Eichelhäher das Eichhörnchen. „Ich werde und ich kann auch nichts an meinen Lebensgewohnheiten ändern. Und ich werde ein lautes Geschrei anfangen und nicht mehr aufhören, dass ihnen die Ohren klingen“.
Der Rabe mischte sich nun ein: „Freunde, kommt Zeit, kommt Rat und die Suppe wird auch nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.“ Er hielt inne. „Freunde, es gibt gleich Ärger, volle Deckung!“ Der Rabe hopste von seinem Sitzplatz und kroch in das leere Gehäuse des Fernsehers hinein. Eine Gruppe lärmender Menschen näherte sich auf dem Weg nahe des kleinen Wäldchens. Der Eichelhäher flog auf mit einem lauten Geschrei. Dann flog eine leere Flasche durch die Luft, verfehlte den Eichelhäher und landete nach einer langen Kurve kurz hinter dem Gehäuse des Fernsehers, kullerte weiter und prallte schließlich gegen den rostigen Tank eines uralten Mopeds.
„Diese Gefahr ist vorüber“ sagte der Rabe etwas nachdenklich, als er aus seinem Versteck kroch. Wir werden eines Tages alle umziehen müssen, das wusste er schon, wenn er an den hohen Stapel amtlicher Papiere dachte.
„Du solltest deine Kräfte nicht verschwenden“, sprach der Rabe zum Eichelhäher, der einen ordentlichen Schreck bekommen hatte, „du wirst noch gebraucht. Und sei nicht traurig, Eichhörnchen, solange die Sonne jeden Tag aufgeht.“
Mehr konnte der Rabe nicht sagen und flog wieder auf den hohen Ast der Eiche hinauf.