Der Rabe – Kurzgeschichten

Der Rabe

Der Baum war uralt. Er ragte kaum höher als die anderen Bäume im Hönower Wald, aber fünf Menschen hätten ihre Arme breiten müssen, um seinen Stamm zu umschließen. Auf mächtigen Krallenwurzeln gestützt schob sich wulstig der Stamm in die Höhe. So manches Wetter hatte ihn gezaust, so mancher Knorren war verdorrt, aber noch widerstand er jedem Sturm, noch wölbte sich die Krone und noch behauste er die Raben. In seinem Gezweig hatten sie seit jeher gesessen, hatten vieles gesehen und nichts vergessen.

Ich bin der Rabe im Baum. Meine Ahnen zählten zu den Auserwählten, die Noah mit in den Kasten nahm vor kaum denkbarer Zeit. Mein Urrabenvater, der Gedächtnis hieß, hat uns die Fähigkeit zur Entsinnung vererbt, die Gabe der Unvergesslichkeit, die kein anderes Geschöpf unter dem Himmel besitzt. Ich weiß alles, bis auf das wenige, das Gott für sich selber behielt.

Wenn die Mittagstunde schlägt, sitze ich auf dem Dach des Rathauses und beobachte die Verwaltenden, wie sie in ihre Pause aufbrechen. Jeden Tag schlägt die alte Kirchwärterin die Glocke zur gleichen Stunde. Im Winter wie im Sommer sitze ich und beobachte, sehe, wie die Zeiten sich wandeln, Menschen kommen und gehen und die Luft sich verändert.

Und hätte ich die Schwingen des Adlers und eine Stimme wie er, würde ich fliegen und das Ächzen von Mutter Erde unter menschlicher Herrschaft verbreiten. Aber ihr Klagen bleibt ungehört.

Ich bin der Rabe im Baum und ich erzähle die Geschichte, wie sie war. Blau und blau war der Himmel so blau.

*****

Jessica hat geschrieben

Heute Morgen, nachdem es hell geworden war, lief ich zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen. Draußen ging ein stürmischer Wind, ein feiner, dichter Regen erfüllte die Luft, es war sehr ungemütlich. Mit den Zeitungen in der Hand zog ich den Abtreter, den der Wind weggeschoben hatte, wieder an seine Position vor die Tür zurück. Dabei kam unter dem Abtreter ein Umschlag zum Vorschein. Ich zog ihn ganz hervor, drehte ihn hin und her, aber weder eine Anschrift noch ein Absender waren darauf. „Was soll bitte das“, dachte ich, „wozu ist der Briefkasten da. Und kein Absender, komisch“.

Ich sah mich um nach allen Seiten, vielleicht war der Bote noch in der Nähe. Weder Mensch, noch Hund oder Katze waren auf der Straße zu sehen bei so scheußlichem Wetter. Trotzdem entstand  bei mir der Eindruck, ich werde beobachtet. Hinter irgendeinem Fenster sieht mir Jemand zu, beobachtet, ob ich den Umschlag finde und aufhebe. Das würde einen Sinn ergeben, aber warum hat sie oder er den Umschlag nicht besser in den Briefkasten geworfen? Zumal bei diesem Wetter?

Ich sah mich nochmals um, aber ich konnte nichts entdecken, was als Erklärung dienen könnte.

Nur auf dem Giebel gegenüber, dort wo in letzter Zeit häufig ein Baumfalke die Umgebung beobachtet hatte, hockte heute ein Kolkrabe. Nichts Besonderes. Er sah zu mir herunter, sein Schnabel wippte mehrmals auf und ab, als würde er mir zunicken. Dann breitete er seine Flügel aus und schwebte ohne Hast davon.

Drinnen im Trockenen nahm ich mir den Umschlag vor. Es war so ein hellgrauer Umschlag von früher, offen. Ich zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Das Blatt war einfach nur leer auf beiden Seiten. Mit dem Blatt Papier in der Hand kam ich nach längeren Überlegungen zu dem Schluss, hier hat jemand einen Spaß gemacht, ich werde mich jedoch nicht darüber ärgern.

In die noch nicht ganz abgeschlossenen Überlegungen hinein klingelte das Telefon. Nach mehreren „Hallo“ legte ich ärgerlich auf, weil sich am anderen Ende der Leitung niemand meldete. „Alles klar“, dachte ich, „das passt gut zusammen, vergiss es einfach. Ab in die Tonne mit dem Brief, der gar keiner ist.“

Ich nahm das Blatt Papier vom Tisch, warf einen letzten Blick darauf und erstarrte. Das Blatt, das bis eben noch leer war – zumindest hatte ich das angenommen, war eng beschrieben. Wo ist die Brille? Mit zitternden Händen setzte ich sie auf und las:

„Lieber Paul,

ja, ich weiß, ich hatte Dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“

„Hm, ein Brief an Paul, nicht an mich. Gut, ich werde den Brief zurück in den Umschlag legen und Paul geben … Doch halt, wer ist der Absender. Und überhaupt, wieso war das Blatt vorhin leer und jetzt ist es ein Brief? Und was sollte der Brief unter dem Abtreter? Der war auch völlig trocken, trotz des Regens. Und wieso saß gerade heute der Rabe da oben auf dem Giebel?

Schweißperlen traten auf meine Stirn. Gleichzeitig zog eine unbekannte Kraft meinen Körper nach hinten. Das war zu viel auf einmal.

Ich erwischte mit dem Pops gerade noch die Sitzfläche eines Küchenstuhls. Dann wischte ich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

„Jetzt ganz langsam, eins nach dem anderen. Als erstes ein Handyfoto von dem Brief, wer weiß, wie lange der Text auf dem Papier bleibt. Dann den Brief wieder eintüten und Paul anrufen.“ Ich trenne mein Handy vom Ladekabel, will es einschalten, aber es lässt sich nicht entsperren. Mir fällt auf, ich habe eiskalte, feuchte Finger. Das kenne ich, immer dann geht die Touch-ID nicht. Wie war nur das blöde Passwort? Irgendwann bekomme ich das Telefon eingeschaltet. Auf dem Bildschirm wird der Brief sichtbar und ich löse aus. Dann sehe ich mir das Foto auf dem Telefon an. Der Text ist gut zu lesen;  nur, je länger ich hinsehe, umso blasser wird er. Irgend so ein neuer Effekt, denke ich noch. Dann wird mit schärfer werdenden Konturen das Gesicht einer Frau erkennbar. Die Frau kenne ich, zumindest kommt es mir so vor. Claudia, sie singt im Chor, ist die Mutter von Jessica. Oder ist es doch nicht Claudia, sieht ihr nur sehr ähnlich? Aber wie kommt diese Frau in mein Telefon?

Sie lächelt, sieht mich an. Dann bewegt sie die Lippen ein wenig und beginnt zu sprechen:

„Lieber Paul,

ja, ich weiß, ich hatte dir versprochen, mit meiner Antwort nicht so lange zu warten.“

„Nein“, rufe ich laut, das ist ein Missverständnis, ich bin nicht Paul.“

Die Frau runzelt die Stirn etwas und unterbricht mich: „Ich spreche gerade zu Paul, Sie können da meinetwegen zuhören, aber lassen Sie mich einfach sprechen.“ Mir stand der Mund offen, wagte nicht, noch etwas einzuwenden. Also doch nicht Claudia, aber absolut ähnlich, die Augen, der Mund. Nur das Haar, wirkt sehr natürlich, ist schon ganz schön grau. Claudia färbt sich ihre Haare , Kastanie, trägt sie auch viel kürzer.

Die Frau lächelt wieder und spricht weiter:

„Ich wollte dir erzählen, was hier in der letzten Zeit so los war. Eigentlich nichts Besonderes.

Neulich hat sich Timm mal wieder gemeldet, der von der JG. Die Woche wäre wieder Scooter-Dance in Ahrensfelde, er würde  mit Katharina hingehen, sie war auch bei der JG und sie sind heute immer noch zusammen. Wir könnten ein wenig schnattern und Spaß haben. Ich war noch nie zum Scooter-Dance. Was soll ich da alleine.

Naja, ich habe zugesagt und bin gestern mit hingefahren. Da sind bestimmt 300 Leute zusammengekommen, wegen der großen Beteiligung und des guten Wetters fand die Party auf dem Rathausplatz statt. Wenn ich mir das so recht überlege, es ist Mitte Februar und die Lebensabendgenießenden kurzärmelig und mit kurzen Hosen, völlig schräg. Die meisten waren auf ihren Scootern angereist, deswegen heißt die Veranstaltung wohl auch Scooter-Dance. Früher hieß das Seniorennachmittag oder so ähnlich. Hat mich wirklich nicht interessiert.

Du wirst es nicht glauben, aber ich habe Timm und Katharina nicht wiedererkannt. Hatte sie auch viele Jahre nicht gesehen. Gott sei Dank hat Timm mich gefunden. Wir saßen dann an einer der langen Tafeln und haben schön erzählt. Natürlich ging es am meisten um die ganz alten Geschichten.

Schön wäre es gewesen, du hättest mit dabei sein können. Ich weiß, ich hätte dir das vorher schreiben müssen, tut mir leid.

Timm hat erzählt, wie ihr als Kinder auf dem Feuerwehrteich Schlittschuhe gelaufen seid. Die Feuerwehr hatte einen Grill aufgestellt, es gab Bratwurst und für die Erwachsenen Glühwein, Musik gab es auch und es war schweinekalt. Nach dem Eishockeyspiel der Feuerwehrleute sind wir mit unseren Schlittschuhen über das Eis geschossen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich damals auch dabei war, nur kannten wir uns noch nicht.  Ich denke, es war im Februar 2011 und es war auch das letzte Mal, dass wir auf dem Feuerwehrteich Schlittschuh gelaufen sind. Mir war das damals überhaupt nicht klar, dass es das letzte Mal war, es überhaupt ein letztes Mal geben könnte.

Bis heute hat sich da eine Menge verändert. Der Feuerwehrteich ist schon vielen Jahren ausgetrocknet, dann sind die Pappeln eine nach der anderen eingeknickt und heute steht auf der Stelle ein Mobility-Hub mit Landeplatz für Lastendrohnen. Nicht schön.

Bei den alten Geschichten wurde mir immer schwerer ums Herz, irgendwann musste ich aufstehen und gehen. Ich möchte da auch nicht wieder hin. Am liebsten würde ich auswandern, irgendwohin, wo es so ist, wie früher.“

Der Frau rannen Tränen über die Wangen. Mir war auch nach Heulen.

Nach und nach verschwamm das Bild, ich hörte sie noch leise sagen: „Paul, lass uns mal reden, ich würde gern zu dir kommen in deinen hohen Norden. Ich umarme dich. Jessi“

„Batterie fast leer“ konnte ich gerade noch erkennen, dann war der Bildschirm schwarz.

Lange saß ich in der Küche, das Telefon noch immer in der Hand. Auf dem Tisch lagen  der graue Umschlag, das leere Blatt und die Zeitungen vom 12. Februar.

„Strom“, dachte ich, „das Foto von dem Brief“. Als mein Telefon wieder atmete, suchte ich nach dem Foto, es gab kein Foto von heute. Was soll ich Paul sagen?

Ich versank wieder in Gedanken. Nach und nach wurde einiges klarer, Jessica hat an Paul geschrieben. Das ist doch logisch. Dann war sie auch die Frau in meinem Telefon?  Wobei, ich kenne doch Jessica, sie hat im letzten Jahr oft mit Paul an diesem Küchentisch gesessen, waren fast noch Kinder. Gar nichts ist klar.

So verging die Zeit und der Abend zog herauf.

 Es war Mitte Februar,  nicht richtig kalt und noch nicht warm.

*****

So lange die Sonne jeden Tag aufgeht

Der Rabe beobachtete von seinem hohen, kahlen Ast einer Eiche das Eichhörnchen, das am Waldboden aufgeregt hin- und hersprang und ständig Blätter, Boden und alles  mögliche andere mit den Pfoten aufwühlte. Es suchte offensichtlich etwas. Ein Eichelhäher landete unweit des Eichhörnchens am Boden mit einer Eichel im Schnabel, um sie unter der Eiche zu vergraben. Die Unruhe am Waldboden lenkte ihn jedoch ab und auch er beobachtete nun das Eichhörnchen.

 Nach einer Weile fragte er zu dem Eichhörnchen hinüber: „Hast du Hunger und findest deine Vorräte nicht mehr? Willst du meine Eichel hier haben?“.  „ Ja und nein“, begann das Eichhörnchen zu jammern, „was noch viel schlimmer ist, ich soll alle Eicheln und Nüsse wieder ausgraben! Die Obrigkeit hat verlangt, dass…“

 „Häää“, krächzte der Eichelhäher, er verstand überhaupt nichts. „Sie haben einen Brief geschickt und mir vorgeworfen, ich entsorge meine Sachen im Wald und pflanze heimlich Bäume. Ich kann aber  nicht anders, ich muss meine Eicheln im Boden verstecken, das hat mir meine Mutter so beigebracht…“ 

Während das Eichhörnchen so klagte, war der Rabe von seinem hohen Ast heruntergeschwebt. Er hockte sich auf das leere Gehäuse eines Fernsehapparates, das im Moos lag und konnte von dort alles gut hören, was gesprochen wurde. 

„Vielleicht bekommst du auch bald einen solchen Brief“, sprach das Eichhörnchen traurig weiter. Der Rabe nickte, er hatte den Brief schon auf einem hohen Stapel amtlicher Papiere liegen sehen, ganz oben drauf. „Und wenn du nicht machst, was sie verlangen, dann…“ „Gar nichts werde ich“, unterbrach der Eichelhäher das Eichhörnchen. „Ich werde und  ich kann auch nichts an meinen Lebensgewohnheiten ändern. Und ich werde ein lautes Geschrei anfangen und nicht mehr aufhören, dass ihnen die Ohren klingen“.

Der Rabe mischte sich nun ein: „Freunde, kommt Zeit, kommt Rat und die Suppe wird auch nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.“ Er hielt inne. „Freunde, es gibt gleich Ärger, volle Deckung!“ Der Rabe hopste von seinem Sitzplatz und kroch in das leere Gehäuse des Fernsehers hinein. Eine Gruppe lärmender Menschen näherte sich auf dem Weg nahe des kleinen Wäldchens. Der Eichelhäher flog auf mit einem lauten Geschrei. Dann flog eine leere Flasche durch die Luft, verfehlte den Eichelhäher und landete nach einer langen Kurve kurz hinter dem Gehäuse des Fernsehers, kullerte weiter und prallte schließlich gegen den rostigen Tank eines uralten Mopeds.

„Diese Gefahr ist vorüber“ sagte der Rabe etwas nachdenklich, als er aus seinem Versteck kroch. Wir werden eines Tages alle umziehen müssen, das wusste er schon, wenn er an den hohen Stapel amtlicher Papiere dachte.

„Du solltest deine Kräfte nicht verschwenden“, sprach der Rabe zum Eichelhäher, der einen ordentlichen Schreck bekommen hatte, „du wirst noch gebraucht. Und sei nicht traurig, Eichhörnchen, solange die Sonne jeden Tag aufgeht.“

Mehr konnte der Rabe nicht sagen und flog wieder auf den hohen Ast der Eiche hinauf.