Klar und kühl entstieg dieser Morgen seinem Nachtgewand. Das Dunkel wechselte mit dem zunehmenden Licht zu einem vielschichtigen Grün. Die Natur schien an diesem Morgen nur Grün zu kennen mit einer Ausnahme: In die Kastanienbäume hatte sie weiß leuchtende, traubenförmige Blütenstände gezaubert. Und das Grün war umgeben von einem Duft, der letzte Spuren von Rapsblüten vereinte mit Kastanie und Robinie.
Das Osterfest lag vier Wochen zurück, es war Sonnabend. Kay lief an diesem Morgen gut gelaunt in Richtung der Endhaltestelle der Straßenbahn. Sein Ziel war ein kleines Kulturhaus im nahen Stadtteil. Eine Stiftung hatte zu einer Historikerkonferenz eingeladen, thematischer Schwerpunkt der öffentlichen Diskussion sollte das Scheitern eines alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells sein. Eigentlich nichts Besonderes. Kay hatte jedoch auf der Liste der Referenten seinen Theorie- Professor von der Universität entdeckt und sich sofort entschlossen, als Gast an dieser Konferenz teilzunehmen. Heute, 40 Jahre später, seinen Lehrer zu treffen, das hatte schon etwas. Und das alles gleich nebenan, ein paar Haltestellen mit der Straßenbahn. Seinen Professor, der vor 40 Jahren in Forschung und Lehre die begonnene Entwicklung des alternativen Gesellschaftsmodells vorzeichnete, den Mann der Zukunft würde er heute quasi in der Vergangenheit wiedertreffen. Kay musste bei diesem Gedanken lachen.
An der Haltestelle stand bereits eine Straßenbahn mit geöffneten Türen. Etwas abseits rauchten Straßenbahnfahrer. Es gab somit keinen Grund zur Eile. Kay betrachtete noch den Raben, der auf der angrenzenden Parkfläche Wasser aus einer kleinen Mulde in der etwas brüchigen Betonfläche trank. „Stimmt, in der Nacht hat es geregnet. Bist ein kluges Tier.“ Mit diesem Gedanken wandte er sich der Bahn zu.
Die Bahn war leer um diese Zeit. Kay stieg an der hinteren Tür ein und lief langsam bis zur Mitte. Außer ihm gab es noch einen weiteren Fahrgast, einen Mann, der sich auf drei Sitzplätzen vor dem Gelenkteil der Bahn niedergelegt hatte. Er lag lang ausgestreckt, den Kopf auf dem angewinkelten Arm abgelegt und seine Schuhe standen vor dem hinteren Sitz. Kay blieb stehen und betrachtete die Schuhe vor dem Sitz. Solches Schuhwerk hatte er bisher noch nicht gesehen. Im Bereich der Fersen schienen die Schuhe vollständig heruntergetreten, so, als wären sie niemals geschlossen gewesen. Die vorderen Kappen bestanden möglicherweise aus einem Flechtmaterial, das im Laufe der Zeit durch Staub und Nässe zu einem ganz neuen Stoff verwachsen war. Die Innensohlen der Schuhe schienen nur aus Schmutz zu bestehen, unter den Fersen fehlte die Sohle fast vollständig. Und dennoch, die Schuhe standen ganz ordentlich nebeneinander.
Der Mann konnte weder ein Betrunkener noch ein müder Partygast der letzten Nacht sein. Mit diesen Schuhen, nein. Diese Schuhe waren eher Zeugnis von Armut und Wanderung.
In diese Überlegungen versunken, betrachtete Kay die nackten Füße des Mannes. Mager und knochig ragten die Fußgelenke aus Hosenbeinen heraus, die weder einen Saum noch irgendeinen anderen Abschluss hatten. Die Fußsohlen bildeten das Spiegelbild der Schuhe, dicke Hornhautpolster um die Fersen, unter den Vorderfüßen und Zehen, ergänzten die abgelaufenen Schuhsohlen. Den Füßen schien jegliche Pflege oder Fürsorge zu fehlen, die ungeschnittenen Zehennägel waren teilweise abgebogen oder abgerissen, dunkle Furchen überzogen die Haut.
Kay bereitete es Mühe, seinen Blick von diesen Füßen abzuwenden. Er wollte keinesfalls aufdringlich sein, hatte es nicht gewagt, dem Mann in das Gesicht zu sehen. Und doch stand er bereits eine ganze Weile neben den Schuhen und starrte fasziniert auf diese nackten Füße.
Kays Blick wanderte über die Hosenbeine des Mannes. Die Hose schien aus einem sehr groben Material ohne eine bestimmte Farbe zu sein, war fleckig, löchrig und um die Knie hatten sich unschöne Beulen gebildet. Der Hosenbund war durch ein Kleidungsstück bedeckt, das der Mann auf dem Oberkörper trug. Von der Funktion schien es eine Jacke zu sein, auch hier fehlte jede klare Form. Die linke Hand des Mannes lag auf seinem Oberschenkel. Es war eine große, sehnige Hand, auf der sich die Adern deutlich abzeichneten und die mit vielen Fältchen überzogen war. Der saumlose, fransige Jackenärmel reichte nicht bis zum Handgelenk. Kay konnte ganz deutlich eine großflächige Narbe über dem Handgelenk sehen, offensichtlich Folge einer schweren Verletzung. Kay kam nicht mehr dazu, die Narbe genauer zu betrachten, eine Frau mit ihren beiden Kindern drängelte sich an ihm vorbei, er stand wohl im Weg. Die Frau zischte: „Guckt da nicht hin, das ist ein betrunkener Penner“.
Diese plötzliche Unruhe versetzte den auf den Sitzen liegenden Mann ebenfalls in Bewegung. Er zog die linke Hand zu seiner Brust heran und der Jackenärmel rutschte bis zum Handgelenk herunter.
Kay stand noch immer neben den Schuhen. Was mochte das nur für eine Narbe sein?
Er betrachtete nun doch das Gesicht des Mannes. Er hatte die Augen geschlossen, atmete gleichmäßig und schien wieder fest zu schlafen. Er mochte Mitte vierzig bis fünfzig Jahre alt sein. Das Gesicht war deutlich gezeichnet von Sorge, Armut und Entbehrung, wirkte dadurch älter. Unter den Augen verliefen unzählige Falten. Tiefschwarze Augenbrauen ließen das Gesicht heller erscheinen. Der schwarze Oberlippen- und Kinnbart bildeten ein festes Geflecht, das ebenso ohne Pflege auskommen musste. Die Nase des Mannes wirkte kräftig, fast ein wenig hakenförmig. Das lange, lockige Haar hatte der Mann aus dem Gesicht geschoben, in dem üppigen, schwarzen Lockengewirr hinter Kopf und Schulter konnte Kay schon silberne Strähnen sehen. Trotz der deutlichen Spuren von Verwitterung strahlte dieses Gesicht Güte und Ruhe aus. Hass, Neid oder Angst hatten keinen Einfluss auf diese Gesichtszüge, so schien es Kay.
Das Abfahrtsignal ertönte, die Türen schlossen sich. Kay riss sich los, trat einige Schritte zurück und blieb im Türbereich stehen, so, dass er den Mann auf den Sitzen gut sehen konnte.
An der nächsten Haltestelle mitten zwischen Wohnhochhäusern wurde es ziemlich voll in der Bahn, die Menschen drängten auf die Sitzplätze. Erste Unmutsäußerungen waren zu hören. „Muss das so sein, dass die Obdachlosen nun schon in der Straßenbahn wohnen?“, brubbelte ein älterer Mann. Zwei Teenager stürzten an dem schlafenden Fahrgast vorbei und kreischten: „Das stinkt hier wie im Pumakäfig!“ Kay hatte das anfangs nicht bemerkt, dass von dem Schlafenden schon ein etwas ungewöhnlicher Geruch ausging, die offenen Türen an der Endhaltestelle hatten für Durchzug gesorgt. Jetzt, mit den einsteigenden Fahrgästen breitete sich eine Wolke aus Haarlack, Shampoo und Parfüms aus, die einen deutlichen Kontrast ergab.
Die Unruhe in der Umgebung des Schlafenden erfasste schnell die übrigen Bereiche der Straßenbahn, Köpfe wurden in die Höhe gereckt, ein junges Pärchen stieg auf einen freien Sitzplatz, um besser sehen zu können und andere Fahrgäste drängelten sich bis zu dem schlafenden Mann durch, um dann kopfschüttelnd oder auch mit hässlichen Bemerkungen zu ihren Plätzen zurückzukehren. Je voller die Bahn an den nachfolgenden Haltestellen wurde, desto lauter wurde der Ärger darüber, dass der schlafende Mann gleich drei Sitzplätze belegte. Es wurde diskutiert, den Straßenbahnfahrer zu informieren.
So sind die Leute, dachte Kay. Diese Menschen hatten, verglichen mit dem schlafenden Bündel Armut, alles und mehr als nötig. Sie hatten ein Zuhause, sahen gut aus nach ihren Vorstellungen und rochen gut, konnten fahren, wohin sie wollten, hatten alle Gründe zur Zufriedenheit. „Freut euch doch einfach“, dachte Kay, „und lasst den armen Mann einfach schlafen“. Er war mit seinen Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, dass der schlafende Fahrgast weder den Obdachlosen noch den Flüchtlingen zuzurechnen war. Der Mann besaß scheinbar nichts als die Sachen, die er auf dem Körper trug. Er hatte keinerlei Tasche oder Behältnis mit seinen Habseligkeiten dabei. Auch in seinen Kleidungsstücken hätte er nichts aufbewahren können, es gab keine Taschen oder einen Gürtel mit Beutel. Auch mit den Flüchtlingen hierzulande gab es keinerlei Gemeinsamkeit, er hatte kein Handy, seine Haare waren nicht geschnitten und er war, bei Lichte betrachtet, in Lumpen gehüllt. Die Kleidungsstücke, die der Mann am Körper trug, schienen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen und machten den Eindruck, als hätte er sie schon hundert Jahre getragen. Diesen Gedanken verwarf Kay, kein Mensch würde seine Sachen hundert Jahre tragen, weil das schon mit Blick auf eine durchschnittliche Lebenserwartung unmöglich war.
Der Mann stammte keinesfalls von hier. Sein Aussehen sprach mehr für eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum oder dem Nahen Osten. Sicher war das nicht. Woher kam er und was war sein Ziel? Und diese armselige Kleidung, völlig aus der Zeit gefallen! Dass der Mann zu Fuß unterwegs war, stand außer Zweifel. Aber warum? Wohin führte seine Wanderung? Wo schlief er, wenn nicht hier in der Straßenbahn? Und wovon lebte er?
Kay kam mit seinen Überlegungen nicht weiter. Er besann sich auf das Ziel seiner Reise. Dann hielt die Bahn an der nächsten Haltestelle. Es war Fahrerwechsel. Ein Mann, der schon durch besonders garstige Bemerkungen über den schlafenden Fahrgast aufgefallen war, sprang aus der Tür und lief zur vorderen Tür der Bahn. Bald darauf kamen die beiden Fahrer und besahen sich den schlafenden Fremden. Der Fahrgast, der den Schläfer denunziert hatte, redete aufgeregt auf die beiden Fahrer ein: „Das geht doch nicht! Schläft auf drei Plätzen! Einen Fahrschein hat der bestimmt nicht. Und diese langen Haare und dieser Bart, wer weiß …“
Kay knurrte in Richtung des Denunzianten: „Nun gib Frieden, der Mann schläft und tut niemandem etwas!“ Die Fahrer stiegen wieder aus, liefen ohne Eile nach vorne und einer der beiden telefonierte. Die Bahn stand. Nach einer Weile meldete sich der Fahrer über die Lautsprecher der Straßenbahn und teilte mit, dass sich die Weiterfahrt etwas verzögern würde. Grund sei die Klärung eines Sachverhaltes. Er bat um Verständnis.
Die Zeit verging, ein Teil der Fahrgäste war ausgestiegen, manche stiegen in den Bus um, andere fuhren mit einer entgegenkommenden Linie Richtung Stadtzentrum weiter. Nach zwanzig endlosen Minuten hielt ein Kleinbus am Straßenrand. Vier Uniformierte einer Sicherheitsfirma stiegen ohne Eile aus. An der Haltestelle angekommen, wechselten sie einige Worte mit den beiden Straßenbahnfahrern.
Kay verstand sofort, wie die Sache nun weitergehen würde. Die Drohung, die von den Sicherheitsleuten ausging, war deutlich zu spüren. Und schon traten zwei von ihnen durch die Tür, an der Kay stand. Der Erste musste sich wegen seiner Körpergröße etwas beugen, weil er nicht aufrecht durch die Tür passte. Der Zweite war von ähnlich hünenhafter Gestalt. Die umstehenden, neugierigen Fahrgäste wichen zurück. Einer der Sicherheitsleute tippte dem Schlafenden ziemlich grob gegen den linken Oberarm. Der Fremde wollte sich in seinem ersten Schreck aufrichten und in diesem Moment packten ihn die beiden Riesen an den Oberarmen, hoben ihn scheinbar mit Leichtigkeit hoch und trugen ihn, ohne dass seine nackten Füße den Boden erreichen konnten, untergefasst aus der Straßenbahn hinaus. Mit Schwung setzten sie ihre Last an der nächsten Bank der Haltestelle ab. Die beiden anderen Sicherheitsleute sahen sich noch kurz in der Bahn um, scheinbar wollten sie die Habseligkeiten des Fremden hinausbringen. Außer den Schuhen gab es nichts. Einer schob dann die Schuhe mit seinem Fuß aus der Straßenbahn hinaus und die Arbeit schien damit erledigt zu sein.
Kay hatte diesem Vorgang wie gelähmt zugesehen. Und auch das Folgende fesselte ihn. Einer der Riesen begann mit der Befragung des Fremden nach seinem Namen, der Wohnanschrift, Nationalität und von wo aus er die deutsche Grenze überschritten habe. Der Fremde sah den Riesen aufmerksam an, antwortete jedoch nicht. Er verstand die Sprache des Riesen nicht. Die Aufforderung, Pass und Fahrschein vorzuzeigen, blieb ebenso ohne Resultat.
Der Mitarbeiter der Sicherheitsfirma wandte sich an einen seiner Kollegen: „Murat, komm mal her, frag du ihn nach seinen Personalien, du bist doch Araber, vielleicht versteht er dich.“
Der Herbeigerufene verzog unwillig sein Gesicht und knurrte: “Holger, wie oft noch soll ich dir sagen, ich bin Aramäer, meine Vorfahren stammen aus der Nähe von Damaskus, dem Qalamunbergland. Als der Bürgerkrieg begann, mussten wir nach Damaskus …“.
Holger unterbrach seinen Kollegen. „Ist das nicht egal, Aramäer, Araber, Armenier, das ist doch alles dasselbe. Wir wollen die Sache hier abschließen und nicht noch mehr Zeit vertrödeln.“
Murat wollte widersprechen: „Noch einmal, ich bin …“.
„Sprichst du arabisch?“, Holger war der Geduldsfaden gerissen, „also los, frage ihn!“
Murat setzte sich auf den freien Platz neben dem Fremden und sprach ihn in seiner Muttersprache an. Der Fremde sah aufmerksam auf sein Gegenüber, schüttelte mehrfach den Kopf, antwortete etwas, worauf Murat wiederum anzeigte, dass er nicht verstand.
Nach wenigen Minuten stand Murat auf und wandte sich an Holger: „Ich verstehe ihn nicht, er versteht mich nicht, weder arabisch noch mein aramäisch. Ich habe keine Idee, woher der Mann stammen könnte. Andererseits, er sieht aus wie euer Jeschua. Schau du ihn dir doch mal genau an.“
„Sieht aus wie wer?“, Holger hatte nichts verstanden.
„Jeschua, ihr nennt ihn meistens Jesus Christus. Ich kenne mich in eurer Religion nicht aus, ich glaube an den Propheten.“
Holger musste lachen. “Jesus, du hast wie immer die besten Ideen! Wenn wir dich nicht hätten, …“
Kay bemerkte, dass während dieses Wortwechsels in dem Fremden eine Veränderung vor sich ging. Er hatte seinen Oberkörper aufgerichtet, etwas nach vorn gebeugt. Sein Gesicht zeigte höchste Anspannung, die weit geöffneten Augen richtete er fest auf Murat. Irgendetwas hatte den Ausdruck von völliger Erschöpfung und Müdigkeit aus dem Gesicht des Fremden gewischt, er wirkte wie erwacht, in das Leben zurückgekehrt.
Und tatsächlich, ein Wort hatte den Fremden aus einer lang andauernden Bewusstlosigkeit zurückgeholt. Sein Name, er hatte seinen Namen gehört, der Kleinere von diesen Soldaten hatte ihn bei seinem Namen genannt, ihn daran erinnert, dass er lebte. Es dauerte nur wenige Momente, bis er seine Situation erfasste und tief verschüttete Erinnerungen an ein weit zurückliegendes Erlebnis drängten in sein Bewusstsein. Es waren die Bilder seiner Festnahme, als er aus der Mitte seiner Anhänger gerissen wurde und sein früheres Leben endete. Es war der Tag vor Pessach, eine kleine Schar seiner Anhänger hatte sich in einer Hütte am Rande Jerusalems versammelt, die Abendmahlzeit gemeinsam eingenommen, gebetet und später darüber gestritten, was zu tun sei, um das Leid des Volkes zu lindern. Eine Horde Bewaffneter drang in die Hütte ein, sie packten ihn, zerrten ihn auf die Straße und unter Schmähungen und Beschimpfungen führten sie ihn in die Stadt. Die Bewaffneten gehörten der Tempelwache an. Einer seiner Anhänger, der ein Schwert mit sich führte, wollte ihm zur Seite springen, aber er gebot ihm Einhalt. Hier und jetzt verwirklichte sich Gottes Plan, niemand hatte die Macht, in diesen Plan einzugreifen. Gott hatte ihn auserwählt, würde ihn, Jesus, zu sich nehmen und er würde als Messias zu seinem Volk zurückkehren, um es in die Freiheit führen.
Angelockt durch den Lärm, der sich um die Bewaffneten verbreitete, kamen die Menschen aus ihren Häusern auf die Straßen, sein Volk sah zu und ließ alles geschehen.
Die Bewaffneten brachten Jesus zu einem Haus in der Nähe des Tempels. Im Innenhof waren bereits viele Männer zusammengekommen, die laut stritten und offensichtlich einander kaum zuhörten. Alle redeten gleichzeitig. Jesus erkannte einige der Versammelten, es waren Mitglieder des hohen Rates und weitere Würdenträger versammelt und man stritt bereits vor seinem Eintreten über seine Verurteilung. Seine Anwesenheit änderte auch nichts. Man beschuldigte ihn, er habe Falsches prophezeit, sich Sohn Gottes genannt, habe dem Volk verkündet, der Messias zu sein. Sie wollten nichts von ihm wissen, nur eines fragten sie immer wieder: „Bist du der Messias?“ Der Streit und das Geschrei dauerten bis zum Morgen, ohne dass die Versammelten zu einem Urteil kamen. Nachdem die Sonne aufgegangen war, führten die Soldaten der Tempelwache Jesus in Begleitung einiger Mitglieder des hohen Rates zum Palast des Prokurators. Die hohen Priester verschwanden im Palast und kehrten erst wieder zurück, als die Sonne den Morgenhimmel bereits eine beträchtliche Strecke hinaufgeklettert war.
Sie übergaben den Gefangenen einem römischen Offizier. Dieser führte Jesus durch große Säle mit wuchtigen Türen und schließlich auf eine weiträumige Terrasse. Von hier konnte man den östlichen Teil Jerusalems gut überblicken. Jesus war fasziniert von diesem Anblick einer so schönen Stadt. Er bemerkte nicht, wie der Offizier verschwand. Jesus hatte auch nicht den Mann gesehen, der schon bei seiner Ankunft in einem breiten Sessel mit hoher Lehne auf der Terrasse saß und ihn aus dieser Position seit geraumer Zeit beobachtete.
Die Stimme des Mannes im Sessel riss Jesus aus seiner Betrachtung der Stadt. Er verstand die Worte nicht, es waren Worte in der Sprache der Römer. Dennoch fühlte er die Schärfe einer an ihn gerichteten Frage. Jesus wendete sich zu dem Mann um, ein Schauer überlief ihn, ihm gegenüber im Sessel saß der römische Stadthalter. Diesem Mann zu begegnen verhieß nichts Gutes.
Pilatus wiederholte seine an Jesus gerichtete Frage, winkte jedoch sogleich eine Frau herbei, die sich im Hintergrund aufgehalten hatte und ließ sie seine Worte übersetzen:
„Jeschu von Nazareth, bist du der König der Juden?“
„Sag du es mir“, erwiderte Jesus mit der gebotenen Zurückhaltung.
„Der hohe Rat hat mir hinterbracht, dass du dich König der Juden nennen lässt und verlangt, dich zu kreuzigen. Sie sagen, du wiegelst das Volk auf, gegen den Kaiser, und du weißt, dass es den Juden nicht erlaubt ist, einem König zu huldigen.“ Pontius Pilatus machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.
Jesus erwiderte, ohne zu zögern: „Das Volk der Juden, so, wie auch ich, erkennt nur den Kaiser an. Wir sind dem Kaiser treu ergeben. ..“
Pilatus unterbrach ihn: „Willst du leugnen, dass du König der Juden genannt wirst?“
„Wenn ich König der Juden genannt werde – kein Jude ist dazu aufgefordert, mich König zu nennen – so hat das eine andere als die von dir angenommene Bedeutung. Ich will es dir erklären.“ Jesus hielt inne, um das Einverständnis seines Gegenübers abzuwarten.
Pilatus forderte ihn mit einer Handbewegung auf, fortzufahren.
„Ich wurde von Gott auserwählt, sein nahendes Reich meinem Volk zu verkünden. Alles, was ich tue, geschieht deshalb, weil Gott es so will. Mein Volk versteht zunehmend, dass Gott in meiner Gestalt mit meiner Stimme zu ihm spricht. Das ist schon alles. Ich habe kein Königreich, keine Untertanen, keine Soldaten, keinen Palast und kein Geld.“
Jesus schwieg, er war sich nicht sicher, ob Pilatus ihn verstand. Nach einer kurzen Weile fuhr er fort: „Auch du hast deine Götter, auch du bist gehalten, das zu tun, was deine Götter von dir erwarten. Natürlich erhältst du vom Kaiser deine Richtlinien und Weisungen, aber der Kaiser ist ebenso an die Forderungen deiner Götter gebunden. Insofern unterscheiden wir beide uns nicht, auch wenn unsere Götter nicht dieselben sind.“
Pilatus antwortete nicht sofort, fragte die Übersetzerin noch etwas, scheinbar um Klarheit zu gewinnen. Dann entschloss er sich zu einer Antwort. „ Im Grunde hast du Recht, wenn du sagst, wir müssen uns dem Willen der Götter fügen, wir beide tun das, was die Götter von uns erwarten. Erkläre mir aber, was ist dein Reich Gottes, wieso verkündest du die Herrschaft Gottes, stellst du die Herrschaft des Kaisers in Frage, bist du der Aufrührer, wie es der hohe Rat behauptet?“ Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Mit Worten die Treue zum Kaiser zu bekennen ist das eine, das Lippenbekenntnis allein zählt jedoch nicht. Dem Kaiser treu ergeben zu sein musst du mit jedem Atemzug und jeder Tat unter Beweis stellen.“
Da war sie wieder, diese Drohung, direkt und unverhohlen sprach Pilatus sie aus. Er, der Stadthalter, hatte die Macht, die er im Namen des Kaisers ausübte und er würde jeden vernichten, der diese Macht infrage stellte. Jesus hatte keinen Zweifel, auch ihn würde dasselbe Schicksal wie Johannes treffen. Und käme es so, so wäre es der Wille des Herrn. Auch wenn es sein Leben kosten würde, Jesus entschloss sich zu einem klaren, unmissverständlichen Bekenntnis.
„Das Reich Gottes wird kommen, meine Bestimmung ist es, dieses Reich meinem Volk zu verkünden. Ich werde mein Volk zur Umkehr aufrufen, Streit, Gewalt und Krieg werden ein Ende finden. Das Reich Gottes entbehrt jeglicher Herrschaft, die auf Gewalt gegründet ist. Alle Menschen werden gleich sein, Männer und Frauen die gleichen Rechte und Freiheiten haben, allen Kranken wird geholfen werden, die Armen werden aus ihrer Not und von ihren Schulden befreit, es wird keine Ausgegrenzten mehr geben. Alle Nachbarn werden friedlich nebeneinander leben und jeder wird sich um den anderen sorgen. Das Reich Gottes steht allen Menschen offen, egal, ob sie einer Religion oder welcher Religion sie angehören. Kein Mensch wird die Herrschaft über einen anderen Menschen ausüben.“
Jesus bemerkte, dass die Übersetzerin ins Stocken geraten war, möglicherweise fehlten ihr die Worte oder sie hatte Angst, auszusprechen, was sie gehört hatte. Er schwieg eine Weile und fuhr fort:
„Ich predige keine Gewalt, rufe niemanden zu einem Umsturz auf, trage keine Waffen, das kann mein Volk bezeugen. Ich helfe auf meiner Wanderung den Armen und Kranken, wo es in meinen Kräften steht, so zeigt sich das nahende Reich Gottes.“
Pilatus winkte etwas mürrisch ab, er hatte genug gehört und war zu der Überzeugung gelangt, dass von diesem Wanderprediger keine Gefahr für die Herrschaft Roms zu erwarten war. Warum der hohe Rat seine Kreuzigung forderte, darüber machte er sich keine Gedanken, Streit in religiösen Angelegenheiten ging ihn nichts an. Der hier vor ihm Stehende war unschuldig, war nach seiner Überzeugung kein Aufrührer, im Gegenteil, er spendete Trost und Hoffnung, bereitete nicht den Boden für Unruhen. Sollte er seinem Glauben weiter anhängen, das betraf nur die Juden, auf die Geschicke Roms blieb das ohne Einfluss. Er würde diesen armseligen Wanderprediger begnadigen, an seiner Stelle könnte ein Anderer gekreuzigt werden. Die Sache hatte Eile, musste bis zum Abend erledigt sein.
„Ich bin bereit, dir dein Leben zu schenken, warte hier, ich werde nach dem hohen Priester schicken“. Pilatus erhob sich und verschwand im Inneren des Palastes. Jesus blieb in dieser schwelenden Ungewissheit auf der Terrasse zurück. Die Bilder begannen vor seinen Augen durcheinander zu wirbeln. Und erneut fesselten ihn die Erinnerungen an die weiteren Ereignisse dieses Tages. Schon oft hatten ihn diese Erinnerungen heimgesucht, es gab kein Entkommen, wie sehr er sich auch dagegen stemmte. Nichts half. Er stöhnte auf vor Schmerzen. Das Gefühl, der Kopf wollte zerspringen und die Arme schienen sich von seinem Körper lösen zu wollen. Dieser irre Schmerz in den Handgelenken, Blut, Durst, Ohnmacht und immer wieder Schmerz. Das Bild seiner Mutter tauchte auf, die vor seinem Kreuz stand und unaufhörlich schluchzte. Dann der gellende Aufschrei eines der Männer neben ihm mit diesem vor Schmerzen bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Gesicht. Römische Soldaten, die erbarmungslos auf diesen Mann einschlugen. Ein wildes Brausen aus Schreien, Schluchzen, Stöhnen und Schmerzen erfüllte alle Sinne. Irgendwann breiteten sich Dunkelheit und Stille aus. Die Stille wurde manchmal durch leise Worte seiner Mutter unterbrochen. Später erkannte Jesus ihr Gesicht, er berührte ihren Arm und sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Wange. Sein Bewusstsein kehrte langsam zurück, er lebte, hatte dieses Martyrium überstanden. Jedoch, was bedeutete das? Hatte Gott seinen Plan geändert? Sein Tod war gleichbedeutend mit dem Aufstieg zu seinem Herrn. Er lebte oder war das, was er erlebte, schon das Reich Gottes? Zweifel und Ungewissheit erfüllten ihn, als er sich nach Heilung der schweren Verletzungen erneut auf die Wanderung begab.
Diese Ungewissheit hatte ihn seither nicht mehr verlassen. Er empfand auch heute genauso wie damals das Gefühl, zwischen Leben und Tod zu schweben, nicht zu wissen, wohin sich sein Schicksal wenden würde. Er hatte das Leben geliebt, hätte es keinesfalls freiwillig für das Unbekannte aufgegeben. Und dennoch fühlte er wie damals die auf ihm lastende Pflicht, das Leben für eine noch größere Aufgabe hingeben zu müssen. Dieser Zustand der Ungewissheit dauerte nun schon eine Ewigkeit. Und diese Ewigkeit irrte er durch die Welt ohne Gewissheit darüber, wie sein Gott entscheiden würde. Seine Anhänger waren lange zurück geblieben oder im Feuer und Krieg der römischen Besatzung untergegangen. Schon lange hörte ihm niemand mehr zu, keiner verstand ihn mehr. Er hatte die Jahre schon lange nicht mehr gezählt, lebte oder lebte nicht, schlief meist in seinen Schuhen und folgte einem Pfad, den scheinbar sein Gott vorgezeichnet hatte. Mit einem gewaltigen Menschenstrom war er in einen Teil der Welt mitgerissen worden, den er nicht kannte und nicht verstand.
Jesus wurde durch Holgers laute Stimme dem Reich seiner Erinnerungen entrissen. “Jungs, es gibt einen neuen Auftrag. Dieser Bursche hier muss nicht zugeführt werden, er muss nur von der Haltestelle runter. Murat, du bringst ihn hinüber zu den Bänken, dort kann er sich meinetwegen in Ruhe ausschlafen.“
Die Straßenbahn war ebenfalls zur Abfahrt bereit. An den Türen ertönten die Signale, die schaulustigen Fahrgäste huschten durch die Türen und auch Kay wurde von dieser Bewegung erfasst. Dann schlossen sich die Türen, die Bahn fuhr langsam an und Kay sah durch das Fenster der Tür, dass die Schuhe des Fremden auf der Haltestelle zurück geblieben waren.
Kay traten Schweißperlen auf die Stirn, die Weiterfahrt wurde ihm zur Qual. Er machte sich schwerste Vorwürfe, er hätte dem Fremden beistehen, und vor allem seine Herkunft und Identität klären müssen. Wenn dieser Fremde nun wirklich – er wagte das kaum zu denken – …? Welche Gelegenheit hatte er einfach so weggeworfen? Das Ereignis, auf das die Welt seit fast zwei Jahrtausenden wartete. Und wieso war nur er allein auf den Gedanken gekommen, der Messias könnte hier soeben erschienen sein? Hätten nicht die Fahrgäste der Straßenbahn, die ganze Stadt, das Land in Jubel und Begeisterung ausbrechen müssen? Oder war alles , was er beobachtet und damit verknüpft hatte, nur ein Streich seiner überschäumenden Phantasie? Er hatte diesen Fremden doch in der Bahn liegen sehen, die Narbe über dem Handgelenk, die Schuhe, sein Stöhnen, als er in der Haltestelle saß. Das hatte er doch nicht geträumt!
Hier in der Bahn und auch bei den Historikern würde er keine Antworten auf seine Fragen finden. Er musste zurück zu der Haltestelle, zu den Bänken ….
Er stieg beim nächsten Halt der Bahn aus, wechselte die Seite, wartete und es dauerte ewig, bis eine Straßenbahn kam. Voller Ungeduld und Unruhe fuhr Kay zurück zu der Haltestelle, an der die Fahrt für den Fremden geendet hatte. Zwei Männer in Orange luden gerade Schaufeln und Besen auf ihren Transporter und fuhren weg.
Kay stürzte auf die andere Seite der Haltestelle, wo die zurückgelassenen Schuhe des Fremden stehen mussten. Dort standen jedoch keine Schuhe mehr.
„Verdammt, die Männer von der Stadtreinigung!“
Kay ging hinüber zu den Bänken, hier war alles menschenleer. Er machte sich auf die Suche, durchstreifte Straßen, Innenhöfe, Wege, Parks und Spielplätze. Die Sonne schien mild am wolkenlosen Frühlingshimmel, überschritt den höchsten Punkt und folgte ihrer Bahn langsam hin zu ihrem Untergang. Kay saß eine Weile gedankenlos am Rande eines Spielplatzes, dann lief er weiter und immer weiter durch Wohngebiete und Straßen. Es wurde dunkel, von dem Fremden fehlte jede Spur.