Der letzte Tag im Oktober

Der letzte Tag im Oktober hatte sich in dichten Nebel gehüllt. Es war bereits später Vormittag, doch wirkte alles dämmrig. So, wie weit vor Sonnenaufgang. Was hatte sie nur, die Sonne, es schien, sie war von ihrer Bahn wieder heruntergestiegen, um sich hinter den flachen Wiesen zu verkriechen. Es lag auch eine gewisse Spannung in der Luft, die Menschen warteten mit Ungeduld auf das wichtigste Ereignis des Jahres vor dem Weihnachtsfest. Das war vielleicht der Grund für den Verdruss der Sonne und hatte dazu geführt, dass die Finsternis selbst am Tage die Oberhand behielt.

Kay strebte an diesem Vormittag auf seinem Fahrrad der Kaufhalle zu. Er musste sich auf seine Weise auf Halloween vorbereiten und noch flott zwei Tüten Äpfel einkaufen. Die Apfelernte war in diesem Jahr sehr schmal ausgefallen.

Auf der Wiese neben dem Weg versammelten sich zu dieser Zeit scheinbar sämtliche Krähen der Gegend. Zu sehen waren sie nicht, dicker Nebel verhüllte sie. Nur das vielstimmige Krah und Kräh war zu hören. Was hatten die Vögel gerade heute dort auf der Wiese zu tun?

Während Kay noch über diese Frage nachsann, nahm ihn schon der nächste Gedanke in Anspruch: Was würde er am heutigen Abend tun?  Zu Hause bleiben hieß, den abendlichen Spuk und das törichte Geschrei „Süßes oder Saures“ zu ertragen, die Tür zu öffnen und die verlangten Süßigkeiten herauszugeben. Nein, in dieses Schicksal würde er sich nicht fügen.. Nicht die Kilotüte Bonbons! Im letzten Jahr hatte er den Kindern Äpfel geschenkt.

Während er so fuhr, fiel sein Blick auf eine Hecke, die vollständig mit einer Plastefolie eingehüllt war und als Knaller hockte mittendrin eine riesige Spinne, gefühlt einen Meter Durchmesser. Zwei Gärten weiter war eine sargähnliche Kiste ausgestellt, unter dem Deckel hing eine Knochenhand heraus.

Kay schüttelte bekümmert den Kopf, sah nur noch auf den Weg, kaufte die Äpfel und fuhr zurück. Auf dem Rückweg beschloss er, den Abend nicht zu Hause zu verbringen, keine Äpfel zu verschenken und auch keine Bonbons, die hatte er nicht gekauft. Ein Spaziergang durch die Siedlung war die Lösung und vielleicht würde er auch herausfinden, was die Eltern mit ihren Kindern auf die Straße trieb, was sie so an der Ausstellung von Schauerlichkeiten faszinierte, warum Kinder, die gerade das Laufen gelernt hatten, Angst und Schrecken erleben sollten. Möglicherweise sollten sie das Fürchten lernen? Denkbar war auch, dass er gar nicht verstand, worum es bei diesem abendlichen Spuk ging. Jedenfalls hatte er einen Plan und das stimmte ihn etwas versöhnlicher.

Die Stunden bis zum Abend schleppten sich mühsam dahin. Nachdem Kay nach Hause zurückgekehrt war, nahm er doch eine Schüssel aus dem Schrank, legte einige Äpfel hinein und stellte sie auf das Regal neben der Eingangstür. Nur für den Fall…

Endlich läuteten die Kirchenglocken die sechste Abendstunde ein.

Kay nahm seine gelbe Jacke vom Bügel, setzte seine Wollmütze auf und ging in den Vorraum, um die Schuhe anzuziehen. Noch ein Blick auf die Schüssel mit den Äpfeln, dann trat er vor die Tür, wäre aber fast mit einem Wesen zusammengestoßen, das dort schon stand. 

„Huch, wer bist du denn?“, fragte Kay etwas verdattert. „Süßes oder Saures!“, antwortete die Maske.

„Wo kommst du denn her?“ Auch die Frage blieb ohne Antwort, stattdessen streckte ihm das Wesen mit beiden Händen eine Tüte entgegen.

Komisch, dachte Kay, kein Kind, eher ein junger Mann  mit einer Maske, die ein kaltes Gesicht in schwarz-weiß abbildete.

„Du willst also nicht mit mir reden, na gut. Möchtest du einen Apfel?“ Zum Zeichen des Einverständnisses blieb die vorgestreckte Tüte geöffnet. Kay nahm einen Apfel aus der Schale und legte ihn in die Tüte. Ohne ein Wort drehte sich der junge Mensch um und steuerte den Eingang des Nachbarhauses an. Hm, den Jungen kenne ich, nur woher? Er überlegte. Jetzt kam er gerade nicht darauf, aber es würde ihm noch einfallen. Es kam ihm auch merkwürdig vor, dass der große Junge ganz allein unterwegs war.

Kay ging Richtung Hauptstraße los, lief dort den Fußweg bis zur nächsten Kreuzung und bog  in die Siedlung ein. Schon von weitem war eine größere Menschenansammlung zu sehen, die eine Grundstückseinfahrt belagerte. Hier schien alles normal, vier oder fünf Kinder im Kindergartenalter standen auf dem Gehweg. In der Einfahrt stand ein Erwachsener mit einem Umhang, auf dem ein Knochengerippe leuchtete. Die Maske war dazu passend. Er hielt den Kindern einen Korb entgegen, und alle zogen sich Bonbons und Lutscher heraus. Hinter den Kindern warteten mindestens zehn Erwachsene. Zwei Frauen trugen einen beleuchteten Kopfputz, die Männer wirkten eher gelangweilt mit Händen in den Hosentaschen. „Kommt gerne wieder im nächsten Jahr“, hauchte das Gerippe mit einer Frauenstimme, „jeder wird etwas bekommen“.

Durch die Hecke war rotes Flackern zu sehen und man hörte Geräusche, die Kay noch aus Kindertagen von der Geisterbahn kannte.

Die Gesellschaft zog weiter. Der Mann überholte sie und bog in die nächste Seitenstraße ein. Ziemlich weit hinten in dieser Straße zuckten weiße und rote Lichtblitze über die Dächer und es waren, wenn auch noch undeutlich, diese dumpfen Geräusche aus der Geisterbahn zu hören. Das war wohl so ein echter Halloween-Hotspot. Und dorthin strebte eine größere Gesellschaft, die gerade aus der letzten Querstraße einbog.

Jetzt flinke Füße, dachte Kay, da gibt es was zu sehen. An einem Gartentor warteten zwei kleine Feen mit ihren Eltern geduldig darauf, dass sich die Tür öffnete. Das Haus sah dunkel aus, nichts regte sich. Bei mir zu Hause könnt ihr auch so lange klingeln, bis ihr schwarz werdet, dachte Kay und sagte noch im Vorbeigehen: „Dahinten gibt’s Süßes und Spaß“. „Wir kommen gerade von dort, das war nicht gerade lustig“, hörte er die Frau noch sagen.

Im Laufschritt erreichte Kay das Ende der Gesellschaft. Mehrere Kinder hatten sich in der Einfahrt aufgestellt und schrien „Süßes, sonst gibt’s Saures“. Eine stattliche Zahl von Erwachsenen sperrte die ganze Straße und ein wenig im Hintergrund hielten sich auch noch drei Jugendliche auf. Oh- dachte Kay. Die Maske habe ich vorhin schon gesehen. Das wird sich aufklären.

Erstmal stellte er sich auf die Zehenspitzen, um in die Einfahrt hineinsehen zu können. Neben dem Haus war in der offenen Garage eine Party im Gange: Männer mit Bierflaschen, Glühweindunst wehte von dort her, und aus großen Lautsprechern dieses dumpfe, ziehende Stöhnen und Krächzen.

Die Kinder riefen noch einmal: „Süßes, sonst gibt’s Saures“. Ein Mann mit Umhang und Hexenhut trat aus der Garage heraus und rief: „Hier ist Selbstbedienung, traut euch einfach!“ Er wies mit einer übergroßen Hand auf den Sarg, der an der Einfahrt stand. Von beiden Seiten wurde nun beobachtet, was passieren würde. Aber niemand traute sich.

Eine Mutter mit Feenausstattung stupste ihren Sohn an, der in der zweiten Reihe stand, und forderte ihn auf: „Friedrich, nun trau dich doch“. Aber Friedrich traute sich nicht. Dann hopste die kleine Lina nach vorne, klopfte auf den Sargdeckel, der sich langsam öffnete. Aus dem Inneren der Kiste hob eine Knochenhand eine Schale mit Süßigkeiten über den Rand. Lina packte mit beiden Händen mindestens fünf Lutscher und hopste triumphierend wieder zurück. Der Deckel schloss sich, die Gesellschaft in der Garage johlte. Eltern klatschten Beifall. Danach traute sich noch ein etwas größeres Mädchen. Rote Lichtblitze huschten über die Gesichter. Das Getöse aus den Lautsprechern ging in ein gellendes Lachen über. Der Sargdeckel öffnete sich, die Knochenhand hob die Schale hoch, das Mädchen griff hastig zu, erwischte mehrere Lutscher, einer fiel ihr aus der Hand. Sie stolperte, fiel hin und auch die übrigen Lutscher gingen verloren. Weinend kehrte sie auf die Straße zurück. Eine Mutter tröstete, aus der Partygarage klang Gelächter zur Straße herüber.

 Als Letzter trat ein Junge aus der Gruppe der Jugendlichen vor, schlappte cool und scheinbar gelangweilt zu dem Sarg und  trat mit dem Fuß dagegen. Der Deckel blieb geschlossen. Er deutete  mit einer Verbeugung eine Entschuldigung an, nichts rührte sich. Ein schauriges Lachen dröhnte noch mal von der Garage herüber, und als es verhallte, wandte sich der Junge ab und trat wieder auf die Straße. Die Gesellschaft in der Garage zeigte kein Interesse mehr. Derweil wurde auf der Straße darüber diskutiert, wohin man weiter ziehen sollte. „Lasst uns noch bis ans Ende gehen“, schlug ein Vater vor. Linas Mutter erwiderte darauf: „Das bringt nichts. Dahinten wohnt bloß noch die Lehmann, die alte Hexe, die rückt nie was raus.“ Damit war Lina überhaupt nicht einverstanden. Sie fragte ihre Mutter empört: „Wieso sagst du, dass Alicias Oma eine alte Hexe ist?“

„Ach, du mein Engelchen“, erwiderte die Mutter, „das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte sagen, vielleicht hat sie sich als Hexe verkleidet.“

„Ich möchte bei Alicias Oma klingeln“, beharrte Lina. Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie mit den beiden anderen Mädchen aus ihrer Kindergartengruppe los. Die ganze Gesellschaft folgte ihr, Kay und die drei Jugendlichen ebenfalls mit etwas Abstand.

Am Garten von Frau Lehmann angekommen, riefen die drei Mädchen: „Süßes oder Saures!“, eine Klingel gab es nicht. Nichts passierte. „ Ihr müsst lauter rufen, sie hört vielleicht schwer.“  Hinter der Eingangstür wurde ein Lichtschein sichtbar und dann trat Frau Lehmann selbst vor die Tür. Ein bisschen wirkte sie schon wie eine Hexe, sie hatte sich eine Fellweste übergeworfen, ein Kopftuch auf, nur die lange spitze Nase fehlte, und dann kam das, was Linas Mama schon erwartet hatte. „Warum macht ihr hier so einen Lärm, was wollt ihr hier? Geht nach Hause und putzt euch lieber eure Zähne, wenn ihr so viel Bonbons esst. Hier gibt es keine Bonbons.“

„Sag ich doch“, raunte Linas Mutter ihrer Nachbarin zu, „die hat schon nichts gegeben, als wir Kinder früher  an ihrer Tür geklingelt haben. Ist eben doch eine alte Hexe“.

Die Lehmann war wieder hinter ihrer Tür verschwunden und vor dem Gartentor wurde Empörung über derartiges Verhalten laut. Man beschloss, die Straße zurück zu gehen. Während sich die ganze Gesellschaft in Bewegung setzte, blieben die Jugendlichen und auch der Mann noch etwas unschlüssig stehen. In diesem Moment öffnete sich die Haustür nochmals und Frau Lehmann kann wieder heraus. „Na Jungs, wenn ihr euch traut, kommt doch einfach morgen zu mir. Ihr habt doch Ferien und ich brauche Hilfe und dann gibt es noch ein Geheimnis zu entschlüsseln. Ich muss nämlich mal in meine Schatztruhe reinschauen, aber der Deckel ist so schwer und ich bekomme ihn alleine nicht mehr hoch.“ Einer der Jugendlichen fragte: „Sollen wir es vielleicht gleich versuchen?“

„Nein, nein, erwiderte Frau Lehmann, so eilig ist das nicht. Ist es morgen um zehn recht?“

„Ganz schön früh, geht es auch um elf?“, wandte einer der Jungen ein.

 „Na gut, dann um elf.“ Und an den Mann in der gelben Jacke gewandt fuhr sie fort: „Kai, wenn du Zeit hast, komm doch bitte morgen Nachmittag bei mir vorbei, ich habe eine etwas knifflige Frage, vielleicht kannst du mir etwas raten. Nur jetzt nicht, ich muss einiges vorbereiten für morgen“.

„Das passt, ich möchte dich morgen auch was fragen. Ich komme am Nachmittag.“

Währenddessen hatte Kay den Jugendlichen mit der Maske noch einmal eingehend betrachtet und dann fiel es ihm ein. Der hatte doch bei der Märchenkampagne mitgemacht. Er wandte sich an den Jungen. „Du bist doch Christopher?- wir haben doch mal zusammen – „Genau“, sagte er und Sie sind der Bär“. –„Stimmt, übrigens hat Frau Lehmann früher auch mitgemacht, sie war meistens eine Fee.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile vor Frau Lehmanns Haus und dann ging jeder seiner Wege.   

Wie sich am nächsten Tag herausstellte, war die Sache folgendermaßen weitergegangen:

Christopher, Janis und Eric trafen sich am Vormittag des ersten Novembers kurz nach elf vor Frau Lehmanns Haus. Die Tür war nur angelehnt.

„Dürfen wir?“, fragte Janis durch die halb geöffnete Tür. 

„Kommt rein“, war Frau Lehmann von drinnen zu hören und sie traten durch einen kleinen Flur in eine helle und geräumige Wohnküche. Frau Lehmann drehte sich vom Herd zu den großen Jungen.

„Seid ihr ausgeschlafen, habt ihr schon gefrühstückt?“ Sie stand lächelnd in ihrer Küche und sah gar nicht so wie eine Hexe aus. Hinzu kam, dass die ganze Küche von einem wohligen Duft ausgefüllt war. Frau Lehmann wies auf den Korb, der mit Backwerk gefüllt auf dem Tisch stand. „Ich habe Reformationsbrötchen gebacken, gestern war nicht nur Halloween, sondern vor allem Reformationstag. Das kennt ihr sicher nicht. Zum Reformationstag hat meine Mutter immer diese Brötchen gebacken und ich mache das jetzt auch. Nehmt euch!“

Christopher staunte, das alles wollte so gar nicht zu einer geizigen Hexe passen.

Sie blieben stehen, probierten die Reformationsbrötchen, der Duft in der Küche machte Appetit.

Eric sah sich währenddessen um und plötzlich stieß er Janis an und zeigte auf eine alte Truhe mit gewölbtem Deckel und Metallbeschlägen. „Solche Truhen habe ich schon oft geöffnet und durchsucht. Wusste gar nicht, dass es sie wirklich gibt. Es gibt sie tatsächlich. Da steht sie einfach so! Ist der Hammer.“ Er kam aus dem Staunen nicht heraus und dann erfasste ihn die Ungeduld. „Können wir jetzt mal den Deckel der Truhe aufmachen?“

„Geduld! Die Truhe läuft nicht weg. Erst brauche ich eure Hilfe. Hinter dem Haus liegt das Laub noch unter den Bäumen, das hätte gestern schon zusammengefegt sein müssen, aber ich schaffe das nicht mehr allein, bin eben doch schon alt wie eine Hexe. Ihr schafft das zu dritt in einer halben Stunde und dann wollen wir uns den Geheimnissen zuwenden.“

Frau Lehmann zeigte den großen Jungen, was im Garten zu tun war und kehrte in ihre Küche zurück. Nach einer halben Stunde war die Arbeit im Garten getan und  die Jungen kamen wieder  in die Küche. Auf dem Tisch lag schon der große Schlüssel für die Truhe bereit und sie verständigten sich darauf, dass Eric die Truhe öffnen durfte. Eric, der sich mit Truhen auskannte, fand auch schnell heraus, wie das Geheimfach zu öffnen war. Darin lag ein schmales, altes Buch. „Ist ja nicht so spektakulär, was wir da gefunden haben.“ Christopher war sichtlich enttäuscht. „Und der andere Kram, ein altes Radio, ein Paar Stiefel?“

„Also“, begann Frau Lehmann, „ganz unten in meiner Truhe liegt mein Hochzeitskleid, schon seit fünfzig Jahren. Da liegen auch dieses Paar Gummistiefel und ein Helm. Die Sachen wollte damals mein Freund noch abholen, als er ging, ich habe sie bis heute aufbewahrt. Den Sternrekorder habe ich zum Abitur bekommen. Da gibt es noch verschiedene Sachen. Was sich eben so ansammelt über die Jahre. Es sind meine Schätze, für euch nichts Besonderes. Wenn ihr wollt, lese ich euch jetzt eine Geschichte aus diesem kleinen Buch hier vor. Diese Geschichten erzählen von einer längst vergessenen Zeit.“

Sie setzte sich an den Küchentisch und die Jungen folgten ihr. Sie schaute etwas belustigt auf die großen Jungen, die artig am Tisch Platz genommen hatten. Wie lange war das her, als sie ihren Kindern Geschichten vorgelesen hatte? Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, ob das heute noch funktionieren würde, eine Geschichte vorlesen? Die Jungen ihrerseits betrachteten Frau Lehmann, die ihre Brille aufgesetzt hatte und Bilder aus frühen Kindertagen wurden wieder lebendig.

Frau Lehmann schlug die Geschichte auf, die ihr schon damals als Kind am besten gefallen hatte und begann zu lesen:

„Es war zu jener Zeit, als  in der schottischen Grafschaft Argyll die Menschen in ihrer irdischen Welt streng getrennt lebten von der anderen Welt, der Feen, Dämonen und Geister. Den Menschen war es nicht vergönnt, auch nur einen flüchtigen Blick in die andere Welt zu werfen, und so kam es, dass sie sich sehr viele Gedanken darüber machten, wie es denn in der anderen Welt aussehe, was diese Feen und Dämonen und die übrigen Geister den ganzen Tag zu tun hatten, wie diese über die Menschen dachten und warum sie manchmal in der irdischen Welt erschienen.

Wenn ein furchtbares Unwetter über Hof und Feld hinweg zog, es blitzte und donnerte, Krankheiten ausbrachen, die Ernte misslang oder eben eine Familie zwölf Kinder hatte, beim Pflügen auf dem Acker ein Beutel mit Silbermünzen zum Vorschein kam oder die Kuh zwei Kälber zur Welt brachte. Dann hatte das alles nach den Vorstellungen der Menschen seinen Ursprung in der anderen Welt, die auf diese oder jene Weise das Tun der Menschen tadelte oder auch belohnte. Es war allen klar, dass Feen und Dämonen Türen hatten, durch die sie nach ihrem Belieben die irdische Welt aufsuchen konnten. Bloß umgekehrt ging das nicht. Nur einmal, am Ende des Lebens eines jeden Menschen öffnete sich eine Tür in die andere Welt. So glaubte man und erzählte es sich schon über viele Jahrhunderte.
Und genau zu dieser Zeit saß Jacob Carmichael mit betrübtem Gesicht in seiner Küche und höhlte verdrossen eine Kohlrübe aus. Ein solches Durcheinander hatte er in seiner Hütte lange nicht erlebt, seine fünf Kinder jagten sich gegenseitig um den Küchentisch, nahmen einander ihre Mützen oder Tücher weg, haschten nach den herunterfallenden Rübenschnitzeln, die sie sich abjagten und gierig in den Mund steckten. Alle Versuche, die Kinder zu beruhigen, waren ihm misslungen. Er war aber auch deshalb betrübt, weil seine Frau, die am Herd stand, sich nicht kümmerte. Das schien aber nur so.

Während sie einen duftenden Brei rührte, hatte Kayleigh mehrfach über die Schulter geschaut und natürlich bemerkt, dass keines der Kinder auf den Vater hörte, und dies ihn bekümmerte. Es war wohl die Zeit gekommen, um einzugreifen,

Mit ihrer Bassstimme brachte sie augenblicklich Ruhe in die Küche: „Jetzt ist aber Schluss, Kinder. Wenn das hier so weitergeht, muss ich glauben, dass ihr die Geister seid, die hier ihren Schabernack treiben und dann werde ich euch vor die Tür setzen. Mädchen, ihr holt eure Stricksachen und jedes strickt an seinem Socken weiter. Und ihr Jungen nehmt eure Schnitzmesser und arbeitet an den Holzfiguren, alle an den Tisch und keinen Mucks mehr“.
Der Vater atmete auf, als Ruhe eingekehrt war. Ein Glück, sie hatten nur fünf Kinder, nicht sieben oder zwölf. Nun ging auch ihm die Arbeit leichter von der Hand.

Nach einer ganzen Weile fragte Rose, die Jüngste: „Mama, wann gibt es endlich Süßes? Ich bin so ungeduldig und habe Hunger.“
„Wenn ich es sage, wenn es so weit ist.“
Alle arbeiteten schweigend weiter, und endlich war der Brei auf dem Herd fertig. Auch Jacob Carmichael hatte die Rübe ausgehöhlt. Nun fehlte bloß noch ein Holzspan und wenn dieser im Hohlraum der Rübe steckte, konnte er angezündet und das Licht nach draußen gestellt werden.
Die Mutter wandte sich an die Mädchen: „Stellt flink sieben Schüsseln auf den Tisch, für jeden einen Löffel und ihr Jungen könnt schon mal die große Truhe öffnen und das Buch herausnehmen, aus dem Großmutter immer vorgelesen hat.“
Gordon und Connor legten ihre Schnitzmesser beiseite, öffneten die Truhe und nahmen aus dem kleinen Seitenfach mit dem Deckel ein Buch heraus, das einzige Buch, das es im Haus der Carmichaels gab.
Bald war alles bereit: Die Schüsseln standen auf dem Tisch, der Topf mit dem Brei, ein Krug mit dickflüssigem Rübensaft und eben dieses Buch. Und so war es schon immer: Im vorigen Jahr, im Jahr davor und auch in dem Jahr davor. Nur die Großmutter saß nicht mehr mit ihnen am Tisch.
Kayleigh Carmichael schlug das Buch auf, schaute noch einmal über die zufriedenen Gesichter der Kinder und des Mannes, legte den Holzspan beiseite, der die richtige Seite markierte und begann zu lesen:
Die McPhersons hatten über viele Jahre ein für die schlechten Zeiten doch glückliches Leben geführt. Charlie McPherson hatte fünf Mädchen zur Welt gebracht. Sie wuchsen heran, halfen in der Küche und in der Wirtschaft und waren den Eltern eine große Hilfe. Als sie erwachsen wurden, heiratete eine nach der anderen und im Haus der McPhersons wurde es zusehends stiller. Drei der Töchter wanderten mit ihren Männern nach Amerika aus und seither hatten die McPhersons nie wieder etwas von ihnen gehört. Charlie McPherson empfand darüber großen Kummer. Die beiden Jüngsten zogen mit ihren Männern auf benachbarte Inseln. Aber auch die Kunde von dort gab keinen Anlass zur Freude. Der Scherenschleifer, der viel herumkam, hatte berichtet, dass die jüngste ihrer Töchter sich bemühte, ein Kind zur Welt zu bringen, es aber nicht so recht gelingen wollte. Die ältere war mit einem Mann verheiratet, der mehr trank, als dass er in der Wirtschaft arbeitete. So zumindest die Kunde, die der Scherenschleifer brachte. Nachdem alle Töchter aus dem Haus waren, wurde es im Haus der McPhersons einsam. Seither folgte ein Unglück auf das andere.
Mitten im August wurde der große Apfelbaum von einem Blitz getroffen, und der heftige Sturm, der das Unwetter brachte, riss den Baum auseinander. Er taugte nur noch als Brennholz. Im Jahr darauf geriet der Misthaufen in Brand, den Malcom McPherson mühevoll über Jahre aufgerichtet hatte und das Feuer griff auf die Vorratskammer über. Es folgte ein Winter, in dem die McPhersons viel Hunger erdulden mussten. Ein Jahr darauf wurde Charlie McPherson von einer Krankheit heimgesucht, und sie konnte über viele Wochen ihr Bett nicht verlassen. Malcom McPherson schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang alleine. Die Sorgen hatten seinen Rücken gebeugt, und das Haar hing ihm schlohweiß auf die Schultern.
In der Nacht auf den Winteranfang lag er, so wie auch viele Nächte zuvor auf seinem Lager und Schlaf wollte sich nicht einstellen. Die Sorgen wollten auch in der Nacht nicht von ihm weichen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, der Rücken schmerzte ihm, und er lauschte auf die Geräusche im Haus, die zeitweilig vom Heulen des Windes übertönt wurden. Da war es wieder, dieses Klick Klack in der Vorratskammer. Das hatte er schon oft gehört, den Grund aber nicht finden können. Er stand auf, entzündete einen Holzspan an der Ofenglut und schlurfte in die Vorratskammer. Nichts regte sich, kein Geräusch war zu hören. Wenn er doch wenigstens sehen könnte, wer dort seinen Schabernack mit ihm trieb. Verdrossen legte er sich wieder auf sein Lager.


Kurz vor dem Morgengrauen war er wohl doch eingeschlummert. Eine wohlige Wärme hatte ihn umfangen und langsam ordneten sich auch die Bilder in seinem Kopf. Und bald konnte er ganz deutlich sehen, wie eine Frauengestalt in einem hellgrünen Kleid aus dem nahen Forst heraustrat und auf ihn zukam. Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen. Vielleicht war es eine seiner Töchter. Nein, er kannte diese Frau nicht. Oder hatte er sie nicht doch schon einmal gesehen? An dieses Kleid konnte er sich erinnern. Als sie vor ihm stand, sprach sie ihn an:

„Mama“, unterbrach Louise ihre Mutter,  „Großmutter hat es immer anders vorgelesen, das ist nicht die richtige Geschichte.
„Doch, doch, das ist die richtige Geschichte. Großmutter hat sie nur etwas anders erzählt. Großmutter konnte nicht lesen.“ Dann fuhr sie fort:
„Malcom, du hast in den letzten Jahren viel Unglück erdulden müssen. Ich habe das alles gesehen und ich bin gekommen, dir den Weg zu zeigen, deine Sorgen zu vertreiben. Ich muss dir aber sagen, helfen kannst du dir nur allein.“
Malcom starrte die Frau ungläubig an: „Wer bist du? Und wie kommst du in meine Hütte?“
„Ich bin eine Fee. Ich bin genauso eine Fee, wie sie in dem Buch beschrieben wird, das in deiner Truhe liegt.“
„Aber ich kann doch gar nicht lesen.“
„Ja, Malcom, ich weiß, deswegen will ich dir helfen. Ich komme viel herum und ich sehe auch sehr viel.“
„Hast du meine Töchter gesehen, die in Amerika?“
„Ja, natürlich ich war da, es geht Ihnen prächtig. Sie haben fleißige Männer, säen und ernten, haben Kinder, und in der Wirtschaft steht es gut. Auch deine beiden Töchter auf den Inseln haben keinen Grund zur Klage, ihr müsst euch nicht sorgen. Glaube nicht, was der Scherenschleifer erzählt. Er schwatzt viel, wenn der Tag lang ist.
„Du warst auf den Inseln? Hast du meine beiden Jüngsten gesehen?“
„Ja, noch einmal, ich habe sie gesehen, alles steht gut. Dir will ich heute sagen, du hast in deinem Leben sehr viel Richtiges getan, aber so manches ist dir eben auch misslungen. Du hast es einfach nicht bemerkt.“
„So, was meinst du denn?“
„Jedes Unglück, das dir widerfahren ist, hat auch seine Gründe. Nimm zum Beispiel die Sache mit deinem Apfelbaum: Solange noch deine Töchter in deinem Haus lebten und dir in der Wirtschaft halfen, haben sie dich dazu überredet, niemals alle Äpfel zu pflücken: Für die Amseln in deinem Garten und auch den Specht aus dem nahen Forst. Auch ich bin so manches Mal gerne durch deinen Apfelbaum geflogen und habe mir im Herbst einen Apfel gepflückt. Auch mir haben deine Äpfel gut geschmeckt, und nicht nur mir. Und irgendwann hast du begonnen, die Äpfel bis auf den letzten abzuernten. Nichts blieb mehr für das Getier auf der Erde und für uns, die Geister. Einen Hitzkopf aus meiner Welt hat es mächtig geärgert und als er ohnehin damit beschäftigt war, ein kräftiges Unwetter zusammenzubrauen, hat er es auch bei dir vorbei geschickt und deinen Baum gefällt. Das war sicherlich nicht nett und doch haben sich alle gefragt, woher kommt dieser Geiz, diese Unachtsamkeit, den Tieren und den Geistern gegenüber?“
Malcom spürte, wie sein Herz schneller klopfte, Schweiß über sein Gesicht ran und er stammelte: „Ich habe das nicht gewollt, ich habe das nicht so gemeint.“
„Du hättest es fühlen und auch sehen können. Du bist nicht allein auf dieser Welt, und die andere Welt gibt es auch noch. Und kannst du dich auch daran erinnern, dass deine Frau Charlie dich gebeten hatte, mit dem Schwager auf die Inseln zu reisen, um eure beiden Töchter zu besuchen? Deine Frau hatte dir schon lange ihren Kummer geklagt. Du aber warst so hartherzig und hast sie nicht gehen lassen. „Wer soll sich um den Haushalt kümmern, wer bei der Ernte helfen? Und wieso denkst du immer nur an dich?“, hast du ihr vorgehalten. Du hast sie nicht mitreisen lassen und sie wollte ja nur wissen, ob es euren beiden Töchtern dort auf den Inseln gut geht. Und dann ist ihr Kummer so weit angewachsen, dass sie sehr krank wurde und viele Wochen lang nicht mehr aufstehen konnte. Auch das hast du ihr vorgehalten, dass du nun den Haushalt und die Wirtschaft allein besorgen musst. Und ich will dir heute ehrlich sagen: Den Scherenschleifer habe ich dir geschickt.“
Malcom stöhnte schwer auf: „Aber warum das alles? Was hätte ich tun sollen?“
„Und weißt du noch, das liegt jetzt schon einige Jahre zurück, als dein Nachbar dich gebeten hatte, am Abend vor Winteranfang zwei deiner Töchter zu ihm zu schicken? Seine Kinder waren damals alle schon lange aus dem Haus und die Nachbarn fürchteten sich an diesem Tag wie heute, dass einer dieser Geister aus der anderen Welt durch die Tür huscht, den ganzen Winter bleibt  und bis zum Frühling seinen Schabernack mit ihnen treibt. Du hast ihn ausgelacht. Und erinnerst du dich daran, dass ich dir damals erschienen war in meinem grünen Kleid. Du hattest mich gefragt, ob es stimmt, dass die Geister gerne mal, wenn es kalt wird, bei den Menschen unterkriechen und sie es nur dort nicht tun, wo Kinder lärmen und lachen. Ich hatte dir erklärt, dass am Vorabend des Winterbeginns die Türen unserer Welt zu eurer Welt weit geöffnet werden und wir Geister an diesem Tag gerne zu euch Menschen hereinschauen. Auch so manche verirrte Seele findet an diesem Abend den Weg zurück in eure Welt, um wenigstens einmal nach den Ihren zu schauen. Natürlich findet es so mancher Geist schöner, mit den Menschen zu überwintern, wo geheizt wird, wo es gut riecht, anstatt immer nur im Kalten und Dunkeln umherzuirren. Weil unsere Geister in der Welt der Menschen aber keine Aufgaben haben, wird es ihnen schnell langweilig und dann fangen sie an ihren Schabernack zu treiben, was wiederum die Menschen verdrießlich macht. Das alles wolltest du von mir wissen und ich habe es dir gesagt. Deinen Nachbarn hättest du ohne Not helfen können. Die Kinder hätten ihnen  in der heutigen Nacht die Geister ferngehalten. Du hast sie nur ausgelacht, und nicht geahnt. dass du eines Tages selbst in ihre Lage kommen wirst. Weil du so hartherzig zu deiner Frau und zu deinem Nachbarn warst, hat dich seither so manches Unglück heimgesucht. Du bist selbst daran schuld.“
Malcom erinnerte sich und begann laut zu jammern. Seine Frau erwachte davon, rüttelte ihn, wollte ihren Mann wach bekommen, um ihn von seinem schrecklichen Traum zu erlösen.   

Doch die Fee ließ Malcom nicht los.
„Du hast alles gewusst“, wiederholte sie unbarmherzig.
Malcom schluchzte: „Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“
„Werde ein achtsamer Mensch, sei niemals hartherzig, nicht gegen deine Frau, nicht gegen deine Nachbarn, nicht gegen die Tiere deiner Welt und auch nicht gegen uns, die Bewohner der anderen Welt. Besprich das mit deiner Frau Charlie, ich hatte das vor Jahren von dir schon verlangt und versprich ihr, dass du dich änderst.“
Malcom starte fassungslos auf die Fee. Langsam wurde ihr Bild immer blasser. Irgendwann sah er nur noch den Forst und auch der verschwand allmählich und wich dem Morgengrauen.
Als er aufwachte, war er pitschnass, und seine Frau Charlie beugte sich sorgenvoll über ihn.
„Bist du krank, Malcom?“
Mühsam rappelte sich Malcom hoch, setzte sich im Bett auf. Dann erzählte er seiner Frau, was er soeben erlebt hatte. Nachdem er ihr alles erzählt und sein Versprechen gegeben hatte, flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie schaute auf das Fenster der Schlafkammer und es schien ihr so, als habe ihr die Fee in dem grünen Kleid noch kurz zugewinkt.

Kayleigh legte den Holzspan in das Buch zurück und klappte es langsam zu. Alle schauten in diesem Moment zum Küchenfenster. Und es war genauso wie zu der Zeit, als die Großmutter die Geschichte vorlas. Alle meinten, am Ende der Geschichte die Fee mit dem hellgrünen Kleid hinter dem Fenster noch einen kurzen Augenblick zu sehen. Sie hatte ihnen auch heute zugewinkt.

Ein Leuchten des Glücks durchflutete die Küche der Carmichaels.

Dann wurde es wieder lebhaft, die Mutter begann die Schüsseln mit Brei zu füllen. Die Kinder verfolgten gespannt jede Bewegung des Löffels. Es wurde streng darauf geachtet, dass alle Portionen gleich groß waren, nur Jacob Carmichael bekam eine größere Portion. Dann war der Rübensaft an der Reihe, die Mutter zeichnete in jeder Schüssel eine schneckenförmige Figur mit dem dickflüssigen Saft. Kayleigh ermahnte die Kinder noch, bitte langsam zu essen, aber das ging schon im Löffeln und Schnattern der Kinder unter.

Nachdem sich alle satt gegessen hatten, wurden die letzten Aufgaben dieses Tages verteilt. Den beiden großen Mädchen wurde aufgegeben, nun zu den Taylors nach nebenan zu gehen. Die Nachbarn waren schon ziemlich alt und hatten keine Kinder mehr im Haus. Darum baten sie die Carmichaels jedes Jahr, ihnen am Vorabend des Winteranfangs ihre Kinder zu schicken, um unliebsame Geister zu vertreiben. Nur die Kinder, so wurde es seit vielen Generationen überliefert und erzählt, hatten die Macht dazu.

„Seid bitte höflich und bescheiden, wenn euch die Nachbarin zu Tisch bittet“, gab Kayleigh ihren beiden Töchtern Louise und Scarlett auf den Weg mit.

Rose und ihre beiden Brüder erhielten die Aufgabe, die ausgehöhlte Rübe mit dem glühenden Spahn nach draußen zu bringen.

„Stellt das Licht bitte nach hinten in den Garten, wo der Grünkohl steht. Wenn die Großmutter nach uns schauen will, wird sie gleich sehen, dass wir uns gut um ihren Grünkohl kümmern. Unser Haus kann sie dann leicht finden.“

Die Carmichaels meinten, dass es besser war, das Licht nicht direkt an der Eingangstür aufzustellen. Weil die Geister zu den Lichtern kamen, konnte es vorkommen, dass so ein Quälgeist unbemerkt durch eine geöffnete Tür hindurch huschte.

Spät am Abend kehrten Louise und Scarlett von den Taylors zurück. In dieser Nacht war es hell, ein zarter Wolkenschleier bedeckte den Himmel. Der volle Mond schob sich weit im Osten über die Wolken und sein Licht erleuchtete sie. Und in dieser Stunde vor Mitternacht hatten die Geister des Nordens den ganzen Himmel grün eingefärbt und es schien, die Wolken leuchteten in dem hellen Grün des Kleides, das die Fee getragen hatte.

Glücklich kehrten die beiden Mädchen nach Hause zu rück, sie brachten auch einen Korb voller Äpfel mit.“

 Frau Lehmann legte ihre Brille zur Seite, schloss das Buch und sah in die Gesichter der Jungen. Sie war sich anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob diese großen Jungen von heute einer solchen Geschichte folgen würden. Nun waren sie einigermaßen sprachlos, echt beeindruckt.

„Das hellt ja so manches auf“.

„Oh ja, Eric“, antwortete Frau Lehmann, „die Menschen sollten einfach wieder lesen, was in den  alten Büchern geschrieben steht.“

„Glauben Sie denn, dass es diese andere Welt mit den Geistern gibt?“, wollte Christopher wissen.

„Ich bin mir da nicht ganz sicher, auf jeden Fall steckt viel Wahres drin und ob es nun die Geister gibt oder nicht, ist für mich nicht so wichtig.“

Frau Lehmann wandte sich um und sah zum Küchenfenster hinaus, auch die Jungen folgten ihrem Blick. Vor dem Fenster entstand Bewegung. Es war jedoch nicht die Fee in ihrem hellgrünen Kleid. Ein Rabe, der auf dem Fensterstock schon eine ganze Weile gehockt hatte, sprang herunter und schwebte gemächlich davon.

„Jetzt gibt es Grießbrei mit Kirschsirup, so, wie in unserer Geschichte.“

*****